Was ist nur aus dem Beruf des Arztes geworden? Würde ich heute nochmal Medizin studieren? Ein Thread und kritische Beurteilung des Alltags als Mediziner im Jahr 2023. 🧵
Als ich vor 23 Jahren den Entschluss fasste,Medizin studieren zu wollen, war vieles noch anders. Zwar gab es auch damals schon hohe Arbeitsbelastung, anstrengende und lange Dienste, schwierige Entscheidungen.Aber ich erlebte damals in den Pflegepraktika und den ersten Famulaturen
überwiegend zufriedene Ärzte und Pflegekräfte. Sicher gab es auch damals schon Unmut und vor allem die ersten Anzeichen einer Zeitenwende, aber wenn immer ich mit den Leuten sprach, hatte ich den Eindruck, dass alle ihrem Beruf mit Freude und Passion nachgehen. Aber was hat sich
in diesen etwas mehr als 20 Jahren so fundamental geändert? Ein entscheidenden Punkt war sicher die Einführung des DRG-Systems, die plötzlich eine ganz neue Form des Kostendrucks im Gesundheitssystem entfacht hat. Plötzlich wurde der Anreiz nicht mehr allein in der Qualität der
Medizin sondern und vor allem im Erreichen monetärer Ziele gesehen. Hierzu wurden von Politik und Klinikleitungen Ärzte bewusst instrumentalisiert und gerade die leitenden Ärzte durch die EInführung von Boni und Zielleistungsvereinbarungen zum Exekutiv-Organ der Betriebswirte.
Auch ich war in meiner Klinikzeit lange DRG-Beauftragter und musste einen großen Teil meiner Arbeitszeit damit verbringen, Terminpläne, OPs und Kathetereingriffe sowie Entlassungen nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu gestalten. Dieser Druck nahm über die Jahre immer
weiter zu und führte letztlich mit dazu, dass ich für mich entschied, nicht mehr unter dem Diktat einer Konzernleitung wie Asklepios arbeiten zu wollen. Somit machte ich mich selbständig. Aber auch im niedergelassenen Bereich nimmt der Kostendruck einen immer größeren Raum ein.
Viele meiner Entscheidungen werden zwangläufig auch durch finanzielle Gesichtspunkte mit beeinflusst. Gerade bei teuren Medikamenten spielt die stete Angst vor einem Regress eine große Rolle und längst kann ich meinen Beruf nicht als Freiberufler im eigentlichen Sinne ausüben.
Kommt ein Patient mehrmals im Quartal bekommen wir nur einen Besuch bezahlt, alle weiteren werden kostenlos erbracht. Das motiviert natürlich viele Ärzte dazu, insbesondere "leichte Fälle" zu bevorzugen, denn der kranke oder sehr kranke Patient rechnet sich grade im KV-System
schon längst nicht mehr. Um in diesem System zu "überleben", werden Termine dann ins nächste Quartal geschoben, Patienten müssen für mehrere Untersuchungen mehrfach kommen, obwohl es für alle Beteiligten einfacher und zeitgünstiger wäre, die Untersuchungen an einem Tag zu bündeln
Für die Sorgen und Nöte der Patienten haben wir gar keine Zeit mehr, die Termine müssen mittlerweile so knapp terminiert werden, dass selbst für eine gründliche Anamnese oftmals die Zeit fehlt. Im Umkehrzug ermüden die vielen repetitiven Untersuchungen, die Abwechslung fehlt.
Wir haben zunehmend ein System der absoluten "Fachidiotie". Die Hausärzte sind so gnadenlos überlastet, dass sie Patienten von Facharzt zu Facharzt schicken müssen. Wir Fachärzte wiederrum handeln meist nur unser Fachgebiet ab, keiner hat mehr die Zeit, den Patienten als Ganzes
zu sehen. Dabei ließe sich durch eine gute Anamnese und zielgerichtete Diagnostik in vielen Fällen so viel Geld und unnötige Diagnostik sparen. Stattdessen treiben wir durch unsere Zeitknappheit die Menschen in die Arme von Heilpraktikern und Esoterikern, die sich die Zeit für
die Patienten dann teuer bezahlen lassen. Aber nicht nur das System ist krank, auch der Umgang mit uns Ärzten und das Bild, das viele Menschen vom Arzt haben, ist ein großer Teil des Problems. Ich erlebe es immer häufiger, dass wir von einem Teil der Menschen als "Dienstleister"
gesehen werden, die gefälligst allen Forderungen und Wünschen nachzukommen haben. Dabei schwebt meines Erachtens vielen das Bild des Arztes vor, der für nichts anderes geboren wurde, als anderen Menschen zu helfen und dies bis zur Selbstaufgabe betreibt. Dieses Bild ist aber
falsch und muss dringend revidiert werden. Auch wenn wir als Ärzte eine hohe Verantwortung gegenüber den Menschen haben und Eigenschaften wie Empathie, Vertrauen und Engagement eine ganz besonders große Rolle spielen, so sind wir doch am Ende des Tages auch alle Ehepartner*innen,
Eltern, Freunde, Kinder. Menschen, die eben auch ein Privatleben haben, die abends einmal den Arbeitstag hinter sich lassen wollen und Interessen außerhalb der Medizin haben. Und so ist es eben nicht selbstverständlich, dass der Arzt/die Ärztin immer noch einen Patient*in
zusätzlich behandelt, am Wochenende erreichbar ist, private Termine absagt etc. Am Ende des Tages ist für uns das Arztsein eben auch ein Beruf, sicher auch für viele von uns eine Berufung. Aber eben keine Berufung, die bis zur Selbstaufgabe führt. Abschließend möchte ich noch
anmerken, dass ich in meinem Thread nur von Ärzt*innen schrieb. Vieles von dem, was ich geschrieben habe, trifft sicher genauso auf die vielen Pflegekräfte zu, die allesamt ihren Beruf mit vergleichbarer Hingabe ausführen und denen ich meinen allerhöchsten Respekt zolle (ich habe
als junger Assistenzarzt mehr von Pflegekräften als von anderen Ärzten gelernt und wenn die Pflege nicht gewesen wäre, hätte ich meinen ersten Dienste wahrscheinlich nicht überstanden. Danke dafür!!!). Ich wollte mir aber nicht anmaßen, über eine Berufsgruppe zu schreiben,der ich
selber nicht angehöre und mir somit auch kein Urteil erlauben kann. Zu meiner Eingangsfrage: Würde ich heute nochmal Medizin studieren? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht! Ich habe mittlerweile den Glauben daran verloren, dass dieses "verkorkste" System nochmal die Wende schafft.
Es mangelt nicht nur an Geld sondern vor allem auch am Willen der Politik, etwas wirklich Substantielles zu verändern. Gleichzeitig hat das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit sehr gelitten. Ich arbeite in meinem Beruf mit zunehmender Verbitterung und Resignation, weil ich das,
was ich gerne darstellen würde und bewirken würde aufgrund der Rahmenbedingungen nicht mehr kann. Alle Hilfeschreie der Ärzte und Pflege verpuffen im Nichts und die Entwicklung hat sich durch die Pandemie in den letzten Jahren nochmals erheblich aggraviert. Ich hoffe trotzdem für
alle Beschäftigten des Gesundheitssystems und aber auch für die vielen tollen Patient*innen, dass die Politik irgendwann die Lage zur Kenntnis nimmt und sich ein Gesundheitsminister findet, der diese Probleme wirklich beherzt und mit Weitblick anpackt. Was mir aber immer noch die
Freude am Beruf erhält, sind die vielen dankbaren Patient*innen, für die es sich lohnt, jeden Morgen aufzustehen und in den Mühlen dieses Systems weiter zu arbeiten. #Medizinbrennt #Medizin #Gesundheitssystem #Pflege #Ärzte

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Feb 14
Bei den Reaktionen auf meinen Tweet habe ich gemerkt, dass vielen Menschen die "Abartigkeiten" des ambulanten KV-Systems tatsächlich gar nicht bekannt sind. Daher an dieser Stelle ein #infotweet zur kassenärztlichen ambulanten Versorgung. #medizinbrennt #medizin @Karl_Lauterbach
Wenn Fachärzte wie wir Kardiologen einen Kassenpatienten behandeln, bekommen wir eine sog. Komplexpauschale, in meinem Fall also den kardiologischen Komplex bezahlt. Hierbei gibt es obligate Bestandteile, also Leistungen, die erbracht werden müssen, um diesen abzurechnen. So muss
ich z.B. ein Ultraschall vom Herzen (Echokardiographie) vornehmen, ansonsten kann die Komplexpauschale nicht abgerechnet werden. Für ein Gespräch (auch wenn dieses 30 Minuten dauert) dürfte ich nur die Versichertenpauschale abrechnen (abhängig vom Alter des Patienten 20-25 Euro).
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Feb 12
Teil 10. Thema heute: Proteine. Über kaum ein Thema wird mit Veganern so häufig diskutiert wie über Proteine. "Wo bekommst du denn deine Proteine her?" "Der Mensch braucht tierisches Protein". Immer wieder werden wir mit solchen Aussagen konfrontiert. Doch stimmt das wirklich?
Zunächst zur Theorie: Proteine sind komplexe Moleküle und bestehen aus Aminosäuren. Es gibt 20 Aminosäuren. Ein Teil dieser AS ist essentiell und muss mit der Nahrung aufgenommen werden. Um die Qualität der Proteinversorgung zu beschreiben, benutzt man die biologische Wertigkeit.
Diese BW gibt an, wie gut ein Protein vom Körper verwertet und in körpereigenes Protein umgewandelt werden kann. Grundsätzlich gilt: Je mehr essentielle AS ein Protein enthält, desto höher ist die BW. Als Referenz der BW benutzt man das Hühnerei. Dieses hat eine BW von 100.
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Feb 11
Folge 9. Thema heute: Jod. Jod ist ein zentraler Bestandteil der Schilddrüsenhormone T3 und T4. Wenn zu wenig Jog aufgenommen wird, kommt es bei Kindern zu schweren Entwicklungsstörungen (Kretinismus), bei Erwachsenen wächst die Schilddrüse (sog. Struma) und es kommt im Verlauf
zu einer Schilddrüsenunterfunktion. Die Richtwerte für die Jodzufuhr betragen für Erwachsene 150-200 µg/d. Jod ist in Deutschland ein generell kritischer Nährstoff (auch bei Omnivoren) und zählt zu den Nährstoffen, bei denen am häufigsten ein Mangel nachgewiesen werden kann.
Lebensmittel wie Feldsalat, Champignons, Broccoli und Karotten enthalten natürlicherweise Jod. Allerdings schwankt der Jodgehalt bei diesen Pflanzen stark und ist vom Jodgehalt des Bodens abhängig. Grundsätzlich haben Felder in küstennahen Regionen einen deutlich höheren Jod-
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Feb 10
Teil 8 meiner Serie. Thema heute: Hibiskus-Tee. Es klingt wie ein Wundermittel. 2008 wurde eine Studie der Universität Boston veröffentlicht, die zeigte, dass es bei einem Konsum von 3 Tassen Hibiskus-Tee pro Tag zu einer Senkung des systolischen Blutdrucks um 7 mmHg im Mittel
kommt und bei Patienten, die bereits hohen Blutdruck haben sogar um bis zu 13 mmHg. Seither wird im Internet Hibiskus-Tee als milde und nebenwirkungsfreie Methode zur RR-Senkung angepriesen. Aber was ist dran? Hierzu sollten wir uns die Datenlage etwas genauer ansehen, denn die
oben erwähnte Studie war letztlich nur eine Untersuchung bei einem sehr kleinen Kollektiv. Die Datenlage ist bei genauerer Literaturrecherche jedoch sehr "dünn". Letztlich gibt es nur zwei kleinere Studien, die aber beide methodische Mängel aufweisen: Zum einen waren die Studien
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Feb 10
Nachtrag zu meinem gestrigen Tweet: Ich konnte die Vielzahl der Kommentare und Fragen nicht alle abarbeiten. Daher hier ein abschließendes Statement: Die Intention meines Tweets war nicht, Nebenwirkungen der Impfungen zu negieren oder die Impfungen generell zu verharmlosen. Ich
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Feb 9
Teil 7. Thema heute: Sekundäre Pflanzenstoffe, kurz SPS. Hierbei handelt es sich um Nahrungsinhaltsstoffe zu denen ca 100000 chemische Verbindungen gehören. Aktuell sind viele gesundheitsfördernde Eigenschaften von SPS bekannt, u.a. antikanzerogene, antioxidative,antientzündliche
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