Eine Situation, die mich schon länger beschäftigt:
Supermarkt
Eine alte Frau mit Rollator und der wachsgelben Gesichtsfarbe einer schweren Krankheit im Endstadium in einem der Gänge.
Sie weint, hält sich krumm, hat die Knie zusammengepresst.
Ich: "Kann ich ihnen helfen?"
Sie, offensichtlich verzweifelt: "Die lassen mich hier nicht aufs Klo gehen! Aber ich muss doch so dringend! Das sind die Medikamente!"
Ich schau sie an.
Sie schämt sich sehr und weint, hält es gleichzeitig fast nicht mehr aus. Ich realisiere, wie groß ihre Not sein muss.
Aufgewachsen in einer anderen Zeit und anders sozialisiert, muss es für sie besonders peinlich sein, sich -als Frau- an einen Fremden, noch dazu einen Mann, zu wenden.
Aber die Not ist zu groß.
Sie krümmt sich, kann den Urin fast nicht mehr halten. Mitten im Supermarkt.
"Warten Sie kurz, ich kümmere mich!", rede ich ihr gut zu.
Entschlossen gehe ich zur Kasse, guetsche mich vor, die Proteste der Schlange ignorierend. "Ein Notfall!", ist alles, was ich sage, während ich mich vorbeidränge.
An der Kasse halte ich eine Packung Klopapier (welch ein Symbol in dieser Situation!) eines fremden Kunden fest, der mich mit offenen Mund anstarrt.
Ich habe die Aufmerksamkeit der Kassiererin völlig für mich.
Aber ich -und die alte, verzweifelte Dame- haben keine Zeit.
Ich schildere der Kassiererin kurz die Situation: Alte Frau, Bedürfnis, Medikamente.
Sie schnippisch -und ich traue meinen Ohren kaum-: "Leider können wir wegen der Hygienevorschriften den Kunden nicht gestatten, bei uns aufs Klo zu gehen."
Ich starre sie ungläubig an: "Sie wissen aber schon, dass sie unter Umständen Körperverletzung begehen, wenn sie jemand den Klogang verweigern?", spiele ich meinen einzigen Trumpf laut aus.
Ihr Selbstvertrauen bröckelt, aber hält noch Stand.
Die aufgebrachte Schlange hinter mir ist plötzlich sehr ruhig.
Ich erkenne, dass ich bei der Kassiererin nicht weiterkomme. 'Lösungsorientiertes Denken, das hast du gelernt!', ermahne ich mich.
"Wo ist der Marktleiter?", frage ich sie, äußerlich ruhig.
Innerlich koche ich.
Sie deutet etwas unsicher vor die Tür. Ein Mann in mittleren Jahren drappiert Sonderangebote. Der Marktleiter!
Ich gehe zu ihm, schildere das Problem.
Auch er: "Aus hygienevorschriftlichen Gründen können wir leider nicht.."
In mir steigt kalte Wut auf.
Der Marktleiter sieht meinen Blick und weicht zurück.
Ich dagegen gehe einen Schritt auf ihn zu.
Mein Zorn auf die Vorschriften und das Wegschauen vor der Not ist weissglühend, heilig und gerecht.
Ich kann mir nicht mehr anders helfen, als ihn anzufahren.
Es ist mir egal, wie die Vorschriften lauten.
Ich schleudere ihm entgegen: "Soll sie ihnen denn in die Tütensuppen pissen?? Was, wenn das ihre Mutter wäre?"
Ich habe keine anderen Argumente.
Er zuckt.
Ich sehe, wie er nachdenkt.
Wir stehen uns Kopf an Kopf gegenüber.
In diesen paar Augenblicken wortlosen Schweigens, während wir uns anstarren, geht mir viel durch den Kopf.
Ihm wohl auch.
Schließlich gibt er sich einen Ruck und geht in seinen Supermarkt.
Sucht die alte Frau, lässt sie aufs Klo.
Ich atme schwer.
Irgendwann gehe ich auch rein, gehe mit meinem Wagen zur Kasse. Zu einer anderen Kassiererin als zuvor.
Die andere Kassiererin hat alles mitbekommen.
Sie flüstert mir zu: "Danke! Ich hab mir nicht getraut, etwas zu sagen.. Ich bin noch neu hier, wollte keinen Ärger."
Ich verstehe sie. Irgendwie.
Was ich nicht verstehe: Warum haben so viele Leute weg gesehen?
Warum hat niemand sonst die Not einer alten, kranken Frau ernstgenommen?
Aber auch: was wird einmal aus mir, wenn ich alt und hilflos bin und niemand habe (wovon ich ausgehe)?
Ich sag es ganz deutlich: Ich will keinen Zuspruch oder Zustimmung!!
Es musste raus, weil es mich sehr beschäftigt.
Daher Danke euch fürs mitlesen!
Wenn ihr was tun wollt, kuckt auf die Alten und Hilflosen.
Schaut nicht weg.
Auch dafür Danke!