Der Corona-Kommentar von “Bild”-Chef Julian Reichelt ist durchsetzt von manipulierenden und suggestiven Metabotschaften. Lust auf eine kleine Textanalyse? 1/16
Schon der erste Absatz hat Einiges von dem, was man Verschwörungsgeschwurbel nennt. Eine unheimliche und - durch die grammatikalische Passivkonstruktion ungenannt gebliebene - Autorität, die die Bevölkerung diszipliniert und “Angst vor einem zweiten Lockdown schürt”. 2/16
Es entsteht das Bild des “drohenden Staates”: Auf der einen Seite wir ohnmächtigen Bürger und Bürgerinnen, auf der anderen Seite der übermächtige Staat. 3/16
Zugegeben, die Corona-Regeln sind oft unübersichtlich, lästig und werden gelegentlich nicht hinreichend kommuniziert. Aber diese Art der Einzelfall-Argumentation erinnert eher an jemand, der Ampeln abschaffen will, weil er nachts an einer leeren Kreuzung nicht warten möchte. 4/16
Das Problem hat man bei allen Regelungen: Je mehr man dem Einzelfall gerecht werden möchte, desto unübersichtlicher wird das Regelwerk (z.B. Steuergesetze). Möchte man klare und einfache Regelungen, handelt man sich den Vorwurf ein, Einzelfällen nicht gerecht zu werden. 5/16
Was aber keine Lösung ist: auf alle Regelungen komplett zu verzichten und nur an den Verstand zu appellieren. Das hat selten bis nie funktioniert. Warum sollte es hier klappen? 6/16
Corona ist kein Brettspiel, zu dem es eine Spielanleitung gibt. So einfach ist es leider nicht... Aber die Zahlen und Richtwerte sind bekannt und öffentlich einsehbar. Das Robert Koch-Institut veröffentlicht dazu z.B. ein regelmäßiges “Epidemiologisches Bulletin”. 7/16
Gute Journalisten befragen Experten und ordnen die Daten für ihre Leser und Leserinnen ein. Und ja, das bereitet Mühe (auch den Lesern) und ist manchmal vielleicht unbefriedigend, wenn es keine einfachen Schwarz-Weiß-Antworten gibt. 8/16
So berühmt ist die Zahl nicht, denn sie fiel wohl in einer internen CDU-Präsidiumssitzung. Abgesehen davon unterschlägt Reichelt eine Kleinigkeit: Die Zahl der Infizierten hat natürlich unmittelbaren Einfluss auf die Zahl der Erkrankten. 9/16
Damit einher geht die Notwendigkeit, intensivmedizinische Ressourcen vorzuhalten, die vereinzelt bereits knapp werden. Das große Problem sind nämlich die begrenzen Kapazitäten für beatmungspflichtige Patienten. 10/16
Reichelt behauptet das einfach mal, ohne eine Quelle dafür zu nennen. Aber im nächsten Satz erfahren wir, worum es ihm eigentlich geht. Gemeint sind nämlich *Trommelwirbel* keine typisch deutschen Begegnungen… 11/16
Reichelt schiebt die Schuld auf andere Kulturkreise, die er diffus und vorurteilsbeladen mit Stereotypen belegt. Durchaus raffiniert und ohne sie konkret zu benennen. Er legt nur die Puzzleteile aus - das Zusammensetzen sollen die Leser übernehmen. 12/16
So soll es gelesen werden: “Millionen” von Deutschen werden von wenigen aus anderen Kulturkreisen “in Restriktionen” gezwungen.

Eine Methode, die der von Donald Trump nicht unähnlich ist: Der spricht vom China-Virus anstatt vom Corona-Virus. Jedesmal geht es um Framing. 13/16
Damit das Framing auch bei den letzten hängenbleibt, greift er zu einem Kontrastverstärker: Nachdem er die Schuldigen genannt hat, ohne sie zu nennen, geht es nun um die "Opfer": die armen Fussballfans.
Populistischer geht's in Deutschland wohl kaum. 14/16
In seinen Schlussworten verbindet Reichelt Selbstverständlchkeiten mit präsidialem Pathos. 15/16
Fazit: In seinem Kommentar mischt Reichelt Verschwörungsgeschwurbel mit rassistischem Geraune und würzt das Ganze mit einer Prise Populismus.

Widerlich, ungenießbar und gefährlich. 16/16

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20 Sep
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