Pay Gap, Care Gap, MINT Gap, Health Gap: Soziale Geschlechterungleichgewichte sind die Regel, nicht die Ausnahme. Welche Gaps sind ok? Wo müssen wir handeln? Unsere Antworten sind geprägt von einem ganz eigenen kognitiven Bias. Ein Thread über die Psychologie von Gender Gaps (1)
(2) Ein Beispiel, um die Sache anschaulich zu machen: Gender Gaps im Arbeitsmarkt. In manchen Berufen sind Frauen unterrepräsentiert (z.B. MINT), in anderen Männer (z.B. soziale Berufe) (Grafik). In der politischen Debatte werden diese Gaps aber ganz anders interpretiert. Warum?
(3) Studien zeigen, dass wir soziale Ungleichheit sehr unterschiedlich wahrnehmen, je nachdem, welche Ursache wir vermuten. Empirische Beobachtungen spielen dabei eine Rolle, ebenso stereotype Weltbilder. Mehrere Studien untersuchen, was die Leute über die Beispiel-Gaps denken.
(4) Eine Studie fragt Probanden z.B., welche Faktoren Ungleichgewichte im Arbeitsmarkt erklären. Befragte erklären die Gaps ganz verschieden. Für Frauen in männlich geprägten Berufen besteht die größte Hürde demnach in Vorurteilen/Diskriminierung (4,06 auf einer Skala von 1-7).
(5) Faktoren wie mangelnde Motivation (3,77) oder Qualifikationen (2,33) werden weniger vermutet. Auch bei Männern in weiblich geprägten Berufen gebe es Vorurteile (3,54), viel wichtiger sei aber fehlendes Interesse (4,85). Auch fehlendes Können wird etwas öfter vermutet (2,91).
(6) Solche Annahmen prägen auch die Unterstützung für politische Interventionen. Die Zustimmung zu Quoten u.ä. für unterrepräsentierte Frauen ist stärker (5,17) als für Männer (4,49). Auch die Bereitschaft, Budgetmittel für diese Zwecke einzusetzen, steigt deutlich (Grafik). Q1
(7) Ähnlich eine andere Studie: Quotenregelungen in schwedischen Firmen finden viel höhere Unterstützung/geringere Ablehnung, wenn davon Frauen profitieren. Besonders hoch ist die Zustimmung, wenn Quoten auch explizit mit diesem Ziel beschrieben werden ("Add"-Framing, Grafik). Q2
(8) Denkbar wäre natürlich, dass Theorien über die Ursache solcher Gaps einfach die Faktenlage spiegeln, also akkurat sind. Für unser Beispiel zeigt sich aber, dass Annahmen (auch) gegen die empirische Situation entstehen (können). Die Datenlage ist nämlich recht uneinheitlich.
(9) In einer Studie sind z.B. Bewerberinnen in Schweden insgesamt 5 Prozentpunkte erfolgreicher als Männer. In männerdominierten Berufen ist keine überproportionale Ablehnung zu beobachten. In frauendominierten Berufen werden dagegen Männer doppelt so oft abgelehnt wie Frauen. Q3
(10) Das Beispiel Schweden deutet so an, dass Annahmen über Gaps und der Wille, sie politisch zu schließen, nicht klar von den Daten abhängen, also teils stereotyp sind. Solche Vorurteile haben verschiedene Quellen. Eine gut nachweisbare kennt die Psychologie als "Prototyp"-Bias.
(11) Prototyp-Bias ist eine Heuristik, mit der von Annahmen über Gruppen auf den Einzelfall geschlossen wird. In unserem Beispiel: Frauen sind oft benachteiligt, also wird auch hier Benachteiligung vorliegen. Männer sind kaum diskriminiert, also liegt es eher an der Motivation.
(12) Ein weiteres schwedisches Experiment zeigt, wie Probanden von solchen Annahmen ausgehend in fiktiven Einzelfällen abgelehnter Bewerbungen ohne weiteres Kontextwissen automatisch eher Diskriminierung vermuten (Frau in MINT-Beruf) oder eben nicht (Mann in sozialem Beruf). Q4
(13) Eine andere Studie zeigt: Stärkerer Prototyp-Bias ("Frauen werden generell unfair behandelt") korreliert signifikant positiv mit der Tendenz, in konkreten Fällen Benachteiligung zu vermuten. Frage hier war, warum Männer/Frauen besser in einem (fiktiven) Test abschneiden. Q5
(14) Nachweisbar ist auch, dass unser Bias beeinflusst, ob wir im Einzelfall Handlungsbedarf sehen. Probanden mit starken prototypischen Bildern sind eher bereit, ein Sachbuch zu zensieren/verbieten, wenn es Männer als bessere Führungskräfte beschreibt als im umgekehrten Fall. Q6
(15) Warum ist das wichtig? 1. Es hilft, politische Debatten zu verstehen. Streit über Gender Gaps ist oft von großem Unverständnis geprägt, warum die Gegenseite nicht einsehen möchte, dass hier (keine) Diskriminierung vorliegt. Evtl. liegt es nicht am Fall, sondern am Prototyp.
(16) 2. Wie alle kognitiven Verzerrungen erschwert auch Prototyp-Bias eine rationale politische Agenda. Auch generell überrepräsentierte Gruppen mit hohem Status können im Einzelfall benachteiligt sein und auch diese Ungleichbehandlung steht einer gerechteren Gesellschaft im Weg.
(17) Quellen:

Q1: DOI 10.1016/j.jesp.2019.03.013
Q2: DOI 10.1111/asap.12236
Q3: DOI 10.1371/journal.pone.0245513
Q4: DOI: 10.1080/00224545.2017.1341374
Q5: DOI: 10.2139/ssrn.3175680
Q6: Preprint: tinyurl.com/ydnun7f5

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22 Feb
Das generische Maskulinum macht Frauen unsichtbar, sagen die einen. Nein, alle sind angesprochen, sagen die anderen.

Welche mentalen Bilder lösen generische Bezeichnungen im Kopf aus? Das ist eine empirische Frage, keine ideologische. Ein Thread über sprachliche Experimente (1)
(2) Zwei Vorbemerkungen:
1. Hier gibt's nur Experimente, keine politische oder linguistische Theorie.
2. Ob und wie viel wir gendern, ist für mich keine Frage der Weltanschauung, sondern von Kosten und Nutzen. Deshalb habe ich in die Daten geschaut. Persönliches Fazit am Ende.
(3) Jetzt zur Sache: Schließt das generische Maskulinum Frauen in unseren Köpfen aus? Antwort: nein, aber. Aber, weil die Daten sehr klar zeigen, dass generische Maskulina auch keineswegs neutral gelesen werden. Wir tendieren offenbar deutlich zu einer männerzentrierten Lesart.
Read 21 tweets
22 Feb
Was mich an diesem Argument immer ein wenig stört, ist die etwas naive, eindimensionale Definition von "Macht" -- ausgerechnet aus theoretischen Strömungen, die sehr differenziert mit dem Begriff umgehen können.

Man könnte das auch etwas anders darstellen. Kurze Erläuterung:
(2) "Macht" hat Facetten. Ein einfaches Modell (nach Lukes): 1. Macht über Ressourcen und Entscheidungen; 2. Macht über die Agenda, Begriffe und "sagbare" Dinge; 3. Macht über ideologische Grundausrichtungen, Definitionen von richtig und falsch, Interessen u.ä.
(3) Die o.g. Argumente heben stets auf Macht im Sinne von 1. ab und blenden 2. und 3. eher aus. Gerade in diesen Bereichen entfalten identitätspolitische Positionen und Strömungen im Moment aber ganz erhebliche Wirkungen in der Gesellschaft, m.E. mehr als die Gegenpositionen.
Read 4 tweets
29 Nov 20
Diese Grafik macht gerade die Runde und wird von politisch links und rechts mit den üblichen Perspektiven bearbeitet.

Hier mal eine eher unorthodoxe und politisch vermutlich selbstmörderische Sicht auf das Thema. (1)
(2) Wir wissen aus der Genetik zweifelsfrei, dass sämtliche persönlichen Merkmale des Menschen genetisch mitbestimmt sind. Die "Erblichkeit" aller Merkmale beträgt insgesamt rund 50%. Familie, Schule und andere Umweltfaktoren bestimmen dagegen gerade mal 5%. Der Rest ist Zufall.
(3) So natürlich auch die persönlichen Merkmale, die Bildungserfolg mitbestimmen: Intelligenz, Fleiß usw. Insgesamt errechnen Forscher für schulischen Erfolg in westlichen Ländern eine "Erblichkeit" von 60%. Umweltfaktoren wie Vorurteile, Armut usw. erklären "nur" 20% der Varianz
Read 7 tweets
28 Nov 20
Falls Ihre Timeline nicht kontrovers genug ist, helfe ich Ihnen gerne mit diesem Thread über Unterschiede zwischen den kognitiven Fähigkeiten von Männern und Frauen aus.

Es gibt natürlich welche, aber nicht so, wie Sie vielleicht denken. Ein Blick in die Forschung (1)
(2) Zunächst: IQ-Tests ergeben bei Männern und Frauen beinahe identische Durchschnittswerte. Was viele Leute nicht wissen: Das ist Absicht. IQ-Tests sind sorgfältig kuratiert, um systematische Ungleichgewichte zu vermeiden. Der Blick auf Mittelwerte verrät uns also wenig (Q1).
(3) Aussagekräftig ist dagegen die Erkenntnis, dass IQ bei Männern variabler verteilt ist (Grafik zur Illustration). Das heißt: In den Extrembereichen der IQ-Verteilung sind Männer häufiger vertreten als Frauen und das Ungleichgewicht wächst, je weiter man an die Ränder geht (Q2)
Read 13 tweets
20 Oct 20
Am Wochenende wird mal wieder die Uhr umgestellt, wir bekommen eine Stunde Schlaf geschenkt. Na und?, denken Sie jetzt vielleicht, was kann die eine Stunde mehr oder weniger schon ausmachen?

Mehr als Sie denken. Ein Thread über die wahrlich furchteinflößende Schlafforschung (1)
(2) Damit Sie mal ein Gefühl für die Dimensionen bekommen: Eine Studie mit 42.000 Patienten über 3 Jahre zählt an Montagen nach der Sommerzeitumstellung 24% mehr Herzinfarkte als üblich, nach der Umstellung auf Winterzeit dafür 21% weniger. DOI:10.1136/openhrt-2013-000019
(3) Eine Studie aus Spanien ermittelt ein um 30% gesteigertes Risiko für einen tödlichen Autounfall am Tag nach der Sommerzeitumstellung und schätzt, dass die Zeitumstellung auf diese Weise jährlich 5 Spaniern zusätzlich das Leben kostet. DOI:10.1097/EDE.0000000000000865
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15 Oct 20
So einem Tweet ist hier jeder schon begegnet: "Forscher sicher: Gender ist ein soziales Konstrukt."

Diesen Thread schreibe ich, damit Sie das nächste Mal, wenn Sie so einer Behauptung begegnen, mit viel Gewissheit und wissenschaftlicher Autorität sagen können: Bullshit! (1) Image
(2) Eine Vorbemerkung: Die empirische Forschung in Psychologie, Biologie, Soziologie und Neurowissenschaft zu Geschlecht, Sozialisierung und sozialen Rollen ist gut: nuanciert, konstruktiv, hochwertig. Gender ist Teil Biologie, Teil Kultur und niemand weiß genau, wie viel wovon.
(3) Nur in Gender Studies und bei Aktivisten will man davon nichts wissen. Nach der bekannten Feministin Ruth Bleier ist Gender "an arbitrary, ever-changing socially constructed set of attributes that are culture-specific and culturally generated." ISBN:0880481366, S.178
Read 15 tweets

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