Am Wochenende wird mal wieder die Uhr umgestellt, wir bekommen eine Stunde Schlaf geschenkt. Na und?, denken Sie jetzt vielleicht, was kann die eine Stunde mehr oder weniger schon ausmachen?

Mehr als Sie denken. Ein Thread über die wahrlich furchteinflößende Schlafforschung (1)
(2) Damit Sie mal ein Gefühl für die Dimensionen bekommen: Eine Studie mit 42.000 Patienten über 3 Jahre zählt an Montagen nach der Sommerzeitumstellung 24% mehr Herzinfarkte als üblich, nach der Umstellung auf Winterzeit dafür 21% weniger. DOI:10.1136/openhrt-2013-000019
(3) Eine Studie aus Spanien ermittelt ein um 30% gesteigertes Risiko für einen tödlichen Autounfall am Tag nach der Sommerzeitumstellung und schätzt, dass die Zeitumstellung auf diese Weise jährlich 5 Spaniern zusätzlich das Leben kostet. DOI:10.1097/EDE.0000000000000865
(4) Eine Studie mit 159 Millionen Patienten errechnet, dass jede Sommerzeitumstellung für rund 880.000 Menschen weltweit mit einem signifikanten medizinischen Problem einhergeht: Herzinfarkte, Schlaganfälle, Unfälle, Entzündungen, Ödeme usw. DOI:10.1371/journal.pcbi.1007927
(5) All diese Effekte lassen sich am Beispiel von Zeitumstellungen auf nur eine einzige Stunde weniger/mehr Schlaf zurückführen. Und jetzt stellen Sie sich mal vor, wie sich solche Effekte kumulieren, wenn man jede Nacht zu wenig Schlaf bekommt. Jeder Lebensbereich ist betroffen.
(6) Nochmal Autounfälle: Mit jeder Stunde verlorenem Schlaf steigt das Risiko, einen Autounfall zu verursachen, signifikant an. Auch hier steht bei 6h-7h Schlaf im Vergleich zu 8h ein um ca. 30% erhöhtes Risiko. Mit jeder weiteren verlorenen Stunde wächst die Gefahr exponentiell.
(7) Der Effekt von Schlafmangel lässt sich auch im Sport sehr gut beobachten. Die folgenden Zahlen betreffen Spitzensportler, die zugrundeliegenden Mechanismen gelten aber für uns alle. Die Grafik zeigt, welchen Effekt eine Stunde weniger Schlaf auf Verletzungsrisiken hat.
(8) Studien bei NBA-Profis weisen signifikante Zusammenhänge zwischen Schlafquantität und Wettkampf-Leistungsfähigkeit nach. Die Grafik zeigt, wie sich Leistungen durchschnittlich verbessern, wenn Sportler mehr als 8h schlafen. Die Grafiken in (6)-(8) sind aus ISBN:978-0141983769
(9) Zu wenig Schlaf macht außerdem dumm. Wer regelmäßig weniger als 7h-8h schläft, schneidet in Tests z.B. zu logischem Denken schlechter ab. Der Effekt ist schon nach einer Nacht nachweisbar. Alle Ergebnisse in der Grafik (STM = Kurzzeitgedächtnis). DOI:10.1093/sleep/zsy182
(10) Schlafmangel verringert Produktivität, Kreativität, Energie und Stimmung. Das macht sich auch beruflich bemerkbar. Eine Studie errechnet einen Zusammenhang zwischen 1h Extra-Schlaf pro Woche und 1,5% höherem Gehalt kurzfristig und 5% langfristig. DOI:10.1162/rest_a_00746
(11) Viele Studien beschreiben die negativen Effekte von Schlafmangel auf Führungskräfte: Müde Chefs sind weniger charismatisch und inspirierend, feindseliger und unkommunikativer. Sie beschädigen Produktivität, Effizienz und Engagement im Team. Z.B. DOI:10.5465/amj.2013.1063
(12) Schlafmangel macht außerdem dick. In einem Experiment nahmen Probanden, die nur 4,5h geschlafen hatten, im Schnitt täglich 300 Kalorien mehr zu sich als die Kontrollgruppe mit 7,5h Schlaf. Besonders der Appetit auf zucker- und fettreiches Essen stieg. DOI:10.5665/sleep.5546
(13) Dieser kausale Mechanismus liefert dann auch eine wichtige Teilerklärung für die auffällig gute Korrelation zwischen zwei gesellschaftlichen Langzeittrends (siehe Grafik): Wir schlafen immer weniger und werden immer übergewichtiger. Quelle wie Tweet (8)
(14) Schlafmangel ist außerdem mit einer langen Liste an schweren Krankheiten assoziiert, etwa mit dem Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Proteine, die mit Demenz zusammenhängen, lassen sich bereits nach einer zu kurzen Nacht vermehrt nachweisen. DOI:10.1212/WNL.0000000000008866
(15) Wie Schlaf und Krebsrisiko zusammenhängen, ist noch unklar. Recht sicher scheint, dass Schlafmangel die körpereigene Krebsabwehr stark einschränkt. Seit 2019 zählt eine WHO-Expertenrunde Arbeit in Nachtschicht zu den wahrscheinlichen Krebserregern. ISBN:978-92-832-0191-5
(16) Fazit: Krebs, Demenz, Herzinfarkt, Schlaganfall, Verletzung, Unfall, Übergewicht, kognitive und körperliche Leistung, Produktivität: Mit jeder verlorenen Stunde Schlaf verschwenden wir Lebensqualität und Potenzial. Hier die Statistik für Deutschland. Wie viel schlafen Sie?

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15 Oct
So einem Tweet ist hier jeder schon begegnet: "Forscher sicher: Gender ist ein soziales Konstrukt."

Diesen Thread schreibe ich, damit Sie das nächste Mal, wenn Sie so einer Behauptung begegnen, mit viel Gewissheit und wissenschaftlicher Autorität sagen können: Bullshit! (1) Image
(2) Eine Vorbemerkung: Die empirische Forschung in Psychologie, Biologie, Soziologie und Neurowissenschaft zu Geschlecht, Sozialisierung und sozialen Rollen ist gut: nuanciert, konstruktiv, hochwertig. Gender ist Teil Biologie, Teil Kultur und niemand weiß genau, wie viel wovon.
(3) Nur in Gender Studies und bei Aktivisten will man davon nichts wissen. Nach der bekannten Feministin Ruth Bleier ist Gender "an arbitrary, ever-changing socially constructed set of attributes that are culture-specific and culturally generated." ISBN:0880481366, S.178
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10 Oct
Die UNO kämpft nicht nur gegen Armut und Krieg, sondern neuerdings auch gegen „Manterruption“: wenn Männer Frauen ins Wort fallen.

Bevor wir zum Sondergipfel einladen, sollten wir kurz empirisch klären, ob Männer wirklich solche Sprachrüpel sind. Wollen Sie's wissen? Thread (1)
(2) Antworten finden wir auf dem Territorium der Soziolinguistik und der Sozialpsychologie.

Vermutlich ist niemand überrascht, wenn ich berichte, dass zahlreiche Studien Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Kommunikationsmustern beschreiben.
(3) Dazu gehört, dass Frauen Sprache mehr auf Beziehungsaufbau ausrichten, Männer auf Statuserhalt und Problemlösung. Entgegen dem Vorurteil sind Männer wohl etwas gesprächiger als Frauen. Diese Unterschiede sind aber klein und extrem kontextabhängig. DOI:10.1177/1088868307302221
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7 Oct
Ein herzliches Willkommen an die neuen Mitleser.

Ich möchte Ihnen gerne eine kleine Geschichte erzählen, die ich im Beruf erlebt habe und die meine Haltung zu Themen wie Vorurteilen, sozialer Benachteiligung und Chancengerechtigkeit radikal geprägt hat. Ein Thread (1)
(2) Ich habe viele Jahre intensiv mit Jugendlichen gearbeitet, die vom Schicksal ziemlich miese Karten bekommen haben. Die Geschichte handelt von einem dieser Pechvögel. Nennen wir ihn Tom.

Tom war ein typischer Hartz IV-Junge: ca. 18, Hauptschule ohne Abschluss abgebrochen ...
(3) … dann langzeitarbeitslos. Familie ein Alptraum: Vater weg, Stiefvater gewalttätig, Mutter drogensüchtig. Dazu Depressionen, Selbstverletzungen, die falschen Freunde und immer Ärger mit der Polizei.

Tom wollte sein Leben ändern, eine Ausbildung finden. Was Kaufmännisches.
Read 12 tweets
5 Oct
Mädchen sind besser in der Schule als Jungs, liest man immer wieder. Stimmt das? Und wie soll man sich das erklären, wenn Frauen doch strukturell benachteiligt sind? Das hat mich interessiert. Ein paar interessante Ergebnisse aus der Forschung ohne Anspruch auf Ausgewogenheit (1)
(2) Vorneweg: Mädchen sind tatsächlich besser in der Schule. Eine Meta-Analyse über 369 Samples ergibt einen messbaren weiblichen Vorteil in Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften. Der Unterschied ist nicht riesig, aber konsistent und über Zeit stabil. DOI:10.1037/a0036620
(3) Warum? Der erste Verdächtige ist IQ, denn IQ korreliert mehr mit schulischem Erfolg als jeder andere Faktor. Studien zeigen aber deutlich, dass der Notenvorteil für Mädchen stabil bleibt, auch wenn man statistisch IQ als Variable miteinbezieht. DOI:10.1007/s10212-012-0127-4
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20 Sep
Mein großes Interesse ist die Schnittstelle von Biologie und Gesellschaft. Was sagen uns Genetik, Evolution und Psychologie über Gerechtigkeit, Chancen und Politik in der offenen Gesellschaft?

Dieser Thread sammelt meine Twitter-Beiträge dazu. Ich freue mich über einen Retweet.
An welchen Stellen Frauen von gesellschaftlichen Vorurteilen profitieren und Männer negativer bewertet werden:

Wie unterschiedliche Interessen von Männern und Frauen politische Forderungen nach Gleichstellung verkomplizieren:

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16 Aug
Interessensunterschiede zwischen Frauen und Männern. Oder: Was wir von Rhesusaffen mit Spielzeugautos über das Streben nach Geschlechterparität lernen können -- Ein Thread mit Daten

#parität #feminismus #gender #gleichberechtigung #psychologie #gesellschaft #mint (1)
(2) Parität zwischen den Geschlechtern wird zunehmend als Endziel von Gleichberechtigungspolitik gefordert. Im Bundestag, in DAX-Vorständen, in MINT-Berufen: In Schlüsselbereichen sollen Männer und Frauen 50/50 vertreten sein. Dann erst sei Gleichberechtigung wirklich erreicht.
(3) Die Logik der Parität basiert auf einer zentralen, aber meist impliziten These: dass Männer und Frauen dasselbe wollen. Wo keine Parität herrscht, muss folglich Benachteiligung im Spiel sein, die den natürlichen Zustand -- eine 50/50-Verteilung -- künstlich verzerrt.
Read 18 tweets

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