1: „(Sind wir zu) wissenschaftsgläubig?“: das nächste schmerzhaft gute Beispiel für ein leicht zu übersehendes Framing, mit dem eine fantastisch gute Wochenzeitung eine Extremposition auf ihrer Titelseite normalisiert. Warum?
2: Als ob er ernsthaft verhandelbar wäre, unser „Wissenschaftsglaube“ - natürlich glauben wir alle an Prinzipien wie objektivierbare Verifizierung/Falsifizierung von Hypothesen, an transparente Studien und wissenschaftliche Institutionen wie Universitäten und Institute.
3: Wer glaubt nicht an Wissenschaft oder lehnt sie taktisch ab? Bewegungen wie die „Querdenker“, fundamentale Christen, egomane ex-US-Präsidenten (Name vergessen), Rechtsextrempopulisten und immer so weiter. Gemeinsam haben sie sonst nur noch eins: ihre Demokratiefeindlichkeit.
4: Ihnen steht die Wissenschaft im Weg (zur Macht), denn ihre Demagogie und Menschenfeindlichkeit funktionieren nur mit einem "zu wenig" an "Wissenschaftsglaube". Gegen sie sollten wir unsere Werte verteidigen, darunter die Selbstverpflichtung zu transparenter Wissensproduktion.
5: „Sind wir zu...?“ suggeriert, man könne genau das übertreiben. Als wäre die zivilisatorische Verabredung, uns nicht von Affekten, (Aber)glaube, belegfreien Konzepten wie „Rasse“ oder „Volk“ leiten zu lassen, ein Wert auf einer Skala, der in den roten Bereich rutschen kann.
6: Und nicht – neben den Menschenrechten – die bisher stabilste Bastion gegen Ideologien und Barbarei, die wir kennen. Als könne man sich als Gesellschaft je nach Lage aussuchen, nach welchen Grundregeln man sich organisiert. Und als wäre „Glaube“ überhaupt entscheidend.
7: Denn das ist ja der enorme Zivilisationssprung, den Wissenschaft möglich gemacht hat: wir müssen nicht mehr glauben. Wir können nachvollziehen, verstehen, kritisieren, scheitern, verbessern, nerven. Wer etwas nicht glaubt, kann Einsicht fordern. Andere Stimmen hören. Fragen.
8: Im Kontext einer Pandemie, in der wir auf vielen Dimensionen von den Errungenschaften der Wissenschaften abhängen, wird die angebliche Übertreibung skurril: glauben wir zu sehr an (wissenschaftlich ermäglichte) Beatmungsgeräte, Schmerzmittel, an Flugzeuge oder Tiefkühlpizzen?
9: Oder geht es doch wieder um genau die Wissenschaft, deren Erkenntnisse zum Schutz aller in Konflikt mit den Freiheiten einiger treten? Was würde es denn konkret bedeuten, weniger an Wissenschaft zu glauben, ohne das System grundlegend zu destabilisieren?
9,5: Wie stringent handelt Politik denn momentan nach der sie beratenden Wissenschaft? Was sagen die Wissenschaftler*innen, die zu den entscheidenden Runden geladen waren? Sie sind hochgradig verbittert. Weil ihnen eben nicht effektiv geglaubt wird.
10: Stattdessen also noch mehr die Rosinen rauspicken und ansonsten lieber würfeln? Mal wieder die gute alte Bibel aufschlagen und nach Sinnsprüchen zu Corona suchen? Gar nichts mehr glauben, alles geschehen lassen?
Das müssten sich die Querdenker fragen. Aber nicht die ZEIT.
[11: Im Interview selbst geht es differenziert um selektive Politikberatung durch Wissenschaft und Modellierungen. Und darum, dass Virologen mitunter eine andere Welt wahrnehmen. Die Verkürzung auf der Titelseite erzählt dagegen vom "Einspruch" einer fundamentalen Pseudoskepsis.]

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27 Apr
Die einzige Frage an unsere Regierung muss doch sein: wie können wir verantworten, dass Portugal in knapp 3 Monaten von Inzidenz 900 und 300 Toten/Tag auf jetzt 0 Tote/Tag und Inzidenz 35 gekommen ist, mit einer simplen bekannten Strategie, und wir versuchen es nicht einmal?
(Falls es jemand umgerechnet haben will: 300 wären bei uns 2400 Tote am Tag.)
Wie jetzt blitzschnell rationalisiert wird, was alles an Portugal anders ist: Kleines Land, am Rand von Europa, fängt mit P an nicht mit D... ich kaufe ein „hat keine so feige Regierung“ und will lösen. Genau so guter oder schlechter Grund wie alle anderen.
Read 6 tweets
24 Apr
1: Was haben wir aus #allesdichtmachen (mal wieder) gelernt? Intellektuelle oder moralische Kapitulation vor einer problematischen Realität ist kein Privileg von Querdenkern und Nazis. Im Gegenteil. Denn sie hat nachvollziehbare Gründe.
2: Besonders sich als "bürgerlich" oder "liberal" oder auch "progressiv" wahrnehmende Menschen haben momentan zu kämpfen mit dem inneren Konflikt zwischen Solidarität und Egoismus, der in jedem von uns steckt.
3: Die kognitive Dissonanz zwischen "ich bin ein guter Mensch, mir sind Tote nicht egal" und "ich will meine Freiheit zurück" kann nur mit intaktem Selbstbild und Ego aufgelöst werden, wenn man einen Teil der Wirklichkeit einfach ignoriert.
Read 13 tweets
19 Apr
(Eine Frage zu solchen Passagen, die mich noch interessiert:)

Was für ein Druck muss hinter den Kulissen herrschen, dass ein Wirtschaftsminister lieber solche demütigenden Auftritte in Talkshows absolviert, als gegen die Interessen einiger Branchen zu handeln?
Steile These: Menschen wie Peter Altmaier sind weder dumm noch böse noch 14 Monate hinterm Mond gewesen. Sie wissen, dass nicht stimmt, was sie jetzt öffentlich erzählen. Aber mehrmals haben sie statt für den Infektionsschutz lieber für Teile der Wirtschaft entschieden. Warum?
Diese Auftritte nun sind Variationen der "Scheißidee" (Zitat Altmaier), sich vor Friday-for-Future-Aktivist*innen zu stellen und zu behaupten, man mache sinnvolle Klimapolitik: völliger Unsinn, und er weiß das selber am besten.
Read 7 tweets
25 Mar
1: Heute vor einem Jahr starteten Christiane Stenger @stengiwitzki und ich #maskeauf maskeauf.de @maskeauf. Wir waren so privilegiert, genug Unterstützung, Zeit, Geld zu haben, um 8 Wochen nichts anderes zu tun. Ein Thread, wie das so lief. Und wie ich heute denke. 😷
2: Anfangs sind wir mit Selfmade-Masken in Supermärkte, um zu testen, wie schief man angeschaut wird. Ergebnis: sehr schief. Masken bedeuteten Krankheit. Aber Studien&ExpertInnen sahen Nutzen, @drosten empfahl sie, ganz Asien trug sie. Im Westen blieb man arrogant-misstrauisch.
3: Also: Videos, in dem Prominente wie Lena Meyer-Landrut, Charlotte Roche, @officiallyjoko @joydenalane @janboehm @koeppenjan @rezomusik @TommiSchmitt und viele mehr sich trauten, für die Maske zu werben. instagram.com/tv/B-F3RxXob9_/ & instagram.com/tv/B-P5Ybko0_C/.
Read 20 tweets
25 Mar
Olaf Scholz findet hier ausdrücklich auch, dass wir testen und impfen sollen und dann wird es, spätestens im Juni. Stärkere Maßnahmen jetzt will er nicht. Immerhin gab es keine Öffnungen. MPK findet er okay. Schulden sind machbar.
(Ich dachte kurz, er spricht an der Stelle unten von Opfern, Infizierten, medizinischem Personal, all den Schäden der Krankheit, wegen derer man jetzt mutiges tun muss. Aber es ging um Schulden, die man machen sollte, um die Wirtschaft zu retten. Er ist ja auch Finanzminister.)
Ich meine das nicht bösartig, ich finde es nur wichtig für ein komplettes Bild: nach der MPK und der gescheiterten Osterruhe hat sich die Regierung offiziell der dritten Welle ergeben. Die jetzt geltenden Maßnahmen müssen reichen. Bis genug Impfungen da sind, halten wir eben aus.
Read 4 tweets
24 Mar
Weil ich gestern die Widersprüchlichkeiten der MPs kritisiert habe, was hat Merkel heute so gesagt (Ostern mal beiseite)? „Die dritte Welle mit der tödlicheren und ansteckenderen Mutation" ist da. Was also tun wir?
Keine Osterruhe, weil organisatorisch nicht machbar, fair enough. Andere Maßnahmen gg. exponentielles Wachstum? Wird irgendwann im April besprochen. Aber Merkel: Mit „allen Maßnahmen setzen wir weiter alles daran, dass unser Gesundheitysystem der immensen Belastung standhält".
Das ist wieder der bekannte  Selbstwiderspruch: man nimmt eine (sehr begrenzte) Maßnahme zurück, schafft keine neuen - aber setzt dennoch "alles" daran? Und "zugleich" sollen die "überaus großen Folgen für Wirtschaft, Bildung, Kultur (...) aufgefangen werden“? Waschen ohne nass?
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