1: Wie im Podcast mit @samelou angerissen und per se nicht neu, aber zigfach gesteigert in der Pandemie:
Es werden bis zur kollektiven Erschöpfung normative Meta-Debatten geführt, indem politische Fragen&Konflikte diskursiv zu moralischen umgedeutet werden. Einige Beispiele.
[1,5: der beste @nilsmarkwardt hat das wie immer lesenswert von der anderen (systemtheoretischen) Seite her beschrieben: "Reden übers Reden." deutschlandfunkkultur.de/allesdichtmach… ]
[1,75: Ich glaube, diese "Luhmann-Debatten" entstehen ursächlich in den Leerstellen/Hohlräumen, aus denen Politik sich zurückzieht, und die diskursiv vom Konnektiv mit Moralisierung und Meta gefüllt werden, weil Pragmatik nicht greift. Jetzt aber Beispiele:]
2: "Impfprivilegien". Die politisch zu bearbeitende Problematik ist seit einem Jahr klar. Nichts ist passiert. Seit Dezember akuter, im Ausland angegangen – weiter nichts passiert. Also: Raum für breite Moral-/Meta-Debatte rund um Generationengerechtigkeit und Neid.
[2,5: Gegenbeispiel "Impfpriorisierung": mein Eindruck mag trügen, aber diese diffiziele politische Frage wurde schnell und proaktiv angegangen, und wenn auch die Lösung kaum perfekt sein konnte, gab es relativ wenig Meta-Debatte darüber. Weil Energie auf Umsetzung gelenkt war.]
3: Oder: Schulen und die Situation von Kindern&Jugendlichen. Gestartet als rein politisches Problem, wo Politik (v.a. die KMK) erst behauptete, es gäbe kein Problem, um es dann monatelang nicht anzugehen... um jetzt Kinder teilweise durchseuchen zu lassen bis zur Impfung.
4: Die emotional geführte Debatte bearbeitet(e) weniger die Politikverweigerung (Luftfilter etc.) als die moralische Frage, „was wir K&J antun (dürfen)“, gegen wessen Wohl wir ihres aufrechnen dürfen, wem Wirtschaft/"Freiheit" wichtiger ist und wenn ja, wie verwerflich das ist.
5: Demokratie lebt natürlich auch davon, die Normen hinter Entscheidungen immer wieder zur Diskussion zu stellen. Wenn aber Entscheidungen nicht getroffen werden, gerät die Moral hinter den ausgebliebenen Entscheidungsoptionen in den Fokus einer Stellvertreterdebatte.
6: Weitere Leerstellen – erstens die der mangelnden Strategie: zu keinem Zeitpunkt gab es ein glaubwürdiges lohnendes gemeinsames Ziel, welches Politik formulieren konnte. Also ist nicht nur die Richtung gesellschaftlicher Vektoren unklar und sie selbst (moralisch) diskutabel.
[6,5: Konkret: Wenn man nicht genau weiß, für welches große Ziel man zu Hause bleibt, facht der Luftzug in jene Lücke die Debatten darüber an, für was man wie lange zu Hause bleiben soll, wer sich nicht daran hält und ob man Fotos von draußen chillenden Jugendlichen teilen darf.]
7: Mehr Meta: die (fehlende oder fehlgeleitete) Diskussion über Ziel&Mittel kann selbst moralisiert werden. Vorläufiger Höhepunkt: Eine Kampagne, die das eigentliche Sprechen über Ziele&Mittel anstoßen will, aber durch ihre Uneigentlichkeit selbst zur moralischen Diskussion wird.
8: Leerstellen der Rhetorik&Narrative: wenn eine Regierung und andere Eliten sich schwer tun, eine gemeinsame Erzählung zu formulieren, "mit einer Stimme" zu sprechen oder wenigstens die Einigkeit rhetorisch zu simulieren, entsteht eine Nachfrage nach simplen Meta-Botschaften...
9: ...wird das Vokabular kleinteilig diskutabel, stoßen Medien und Expert*innen mit aufmerksamkeitsökonomischen Profitinteressen in die diskursiven Lücken. Irgendwann redet man fast nur noch darüber, wer wie darüber reden soll (mindestens solange es den Profi-Drüberredern nutzt).
10: Noch eine Leerstelle? Die der Entscheidungsgrundlage. Ohne Corona-Panel wie in GB, mit lückenhaften RKI-Daten und Meldeverzug der Gesundheitsämter (remember Ostern) beziehen sich Akteure auf fragile Daten, stochern wir im epistemologischen Nebel. jmwiarda.de/2021/04/28/die…
11: Nur ein Beispiel: Wir kennen das Alter der Intensivpatienten nicht, nur die Schätzungen der Mediziner*innen aus Interviews. Vorhang auf für politisch ziellose Diskussionen, ob und wie man anekdotische Evidenz inwiefern berücksichtigen sollte.
12: Das gehört zur Eigenlogik von Medien, wie @christophkappes bemerkt und mag manchmal sogar "moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten" (M. Gabriel) bringen.
13: Es wirkt auf mich aber noch mehr wie die Simulation politischer Selbstwirksamkeit, wo die Sachebene verbarrikadiert scheint von einem Politikstil, der so wenig wie möglich wirklich "löst", weil eine Entscheidung immer verbunden ist mit Risiken der Reaktanz und Haftung.
14: Das alles muss zu einer diskursiven Erschöpfung der "mütenden" Bürger*innen führen, die sich zwar genuin für Politik interessieren, sich aber regelmäßig frustriert in strenggenommen nahezu entpolitisierten Meta-Debatten wiederfinden.
15: Und dieser Thread ist gewissermaßen das vielleicht beste Beispiel für seine Hypothese. That´s it, that´s the Thread, danke für´s (trotzdem) lesen.
1: „(Sind wir zu) wissenschaftsgläubig?“: das nächste schmerzhaft gute Beispiel für ein leicht zu übersehendes Framing, mit dem eine fantastisch gute Wochenzeitung eine Extremposition auf ihrer Titelseite normalisiert. Warum?
2: Als ob er ernsthaft verhandelbar wäre, unser „Wissenschaftsglaube“ - natürlich glauben wir alle an Prinzipien wie objektivierbare Verifizierung/Falsifizierung von Hypothesen, an transparente Studien und wissenschaftliche Institutionen wie Universitäten und Institute.
3: Wer glaubt nicht an Wissenschaft oder lehnt sie taktisch ab? Bewegungen wie die „Querdenker“, fundamentale Christen, egomane ex-US-Präsidenten (Name vergessen), Rechtsextrempopulisten und immer so weiter. Gemeinsam haben sie sonst nur noch eins: ihre Demokratiefeindlichkeit.
Die einzige Frage an unsere Regierung muss doch sein: wie können wir verantworten, dass Portugal in knapp 3 Monaten von Inzidenz 900 und 300 Toten/Tag auf jetzt 0 Tote/Tag und Inzidenz 35 gekommen ist, mit einer simplen bekannten Strategie, und wir versuchen es nicht einmal?
(Falls es jemand umgerechnet haben will: 300 wären bei uns 2400 Tote am Tag.)
Wie jetzt blitzschnell rationalisiert wird, was alles an Portugal anders ist: Kleines Land, am Rand von Europa, fängt mit P an nicht mit D... ich kaufe ein „hat keine so feige Regierung“ und will lösen. Genau so guter oder schlechter Grund wie alle anderen.
1: Was haben wir aus #allesdichtmachen (mal wieder) gelernt? Intellektuelle oder moralische Kapitulation vor einer problematischen Realität ist kein Privileg von Querdenkern und Nazis. Im Gegenteil. Denn sie hat nachvollziehbare Gründe.
2: Besonders sich als "bürgerlich" oder "liberal" oder auch "progressiv" wahrnehmende Menschen haben momentan zu kämpfen mit dem inneren Konflikt zwischen Solidarität und Egoismus, der in jedem von uns steckt.
3: Die kognitive Dissonanz zwischen "ich bin ein guter Mensch, mir sind Tote nicht egal" und "ich will meine Freiheit zurück" kann nur mit intaktem Selbstbild und Ego aufgelöst werden, wenn man einen Teil der Wirklichkeit einfach ignoriert.
(Eine Frage zu solchen Passagen, die mich noch interessiert:)
Was für ein Druck muss hinter den Kulissen herrschen, dass ein Wirtschaftsminister lieber solche demütigenden Auftritte in Talkshows absolviert, als gegen die Interessen einiger Branchen zu handeln?
Steile These: Menschen wie Peter Altmaier sind weder dumm noch böse noch 14 Monate hinterm Mond gewesen. Sie wissen, dass nicht stimmt, was sie jetzt öffentlich erzählen. Aber mehrmals haben sie statt für den Infektionsschutz lieber für Teile der Wirtschaft entschieden. Warum?
Diese Auftritte nun sind Variationen der "Scheißidee" (Zitat Altmaier), sich vor Friday-for-Future-Aktivist*innen zu stellen und zu behaupten, man mache sinnvolle Klimapolitik: völliger Unsinn, und er weiß das selber am besten.
1: Heute vor einem Jahr starteten Christiane Stenger @stengiwitzki und ich #maskeaufmaskeauf.de@maskeauf. Wir waren so privilegiert, genug Unterstützung, Zeit, Geld zu haben, um 8 Wochen nichts anderes zu tun. Ein Thread, wie das so lief. Und wie ich heute denke. 😷
2: Anfangs sind wir mit Selfmade-Masken in Supermärkte, um zu testen, wie schief man angeschaut wird. Ergebnis: sehr schief. Masken bedeuteten Krankheit. Aber Studien&ExpertInnen sahen Nutzen, @drosten empfahl sie, ganz Asien trug sie. Im Westen blieb man arrogant-misstrauisch.
Olaf Scholz findet hier ausdrücklich auch, dass wir testen und impfen sollen und dann wird es, spätestens im Juni. Stärkere Maßnahmen jetzt will er nicht. Immerhin gab es keine Öffnungen. MPK findet er okay. Schulden sind machbar.
(Ich dachte kurz, er spricht an der Stelle unten von Opfern, Infizierten, medizinischem Personal, all den Schäden der Krankheit, wegen derer man jetzt mutiges tun muss. Aber es ging um Schulden, die man machen sollte, um die Wirtschaft zu retten. Er ist ja auch Finanzminister.)
Ich meine das nicht bösartig, ich finde es nur wichtig für ein komplettes Bild: nach der MPK und der gescheiterten Osterruhe hat sich die Regierung offiziell der dritten Welle ergeben. Die jetzt geltenden Maßnahmen müssen reichen. Bis genug Impfungen da sind, halten wir eben aus.