Dieser Artikel beschäftigt mich sehr! Eine Abbildung, über die ich gestern lange mit einer Kollegin diskutiert habe, ist diese hier. Warum? Weil wir in der Praxis häufig beobachten, dass mildere Ausprägungen sog. „Persönlichkeitsstörungen“ auch vor dem 20. Lj. auftreten. 1/16
Ein gutes Beispiel hierfür: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Sie bezeichnet eine Störungsgruppe, die durch eine massive affektive Instabilität und Dysregulation gekennzeichnet ist. 2/16
Betroffene berichten meist von einer einschießenden, starken Spannung, die als äußerst aversiv erlebt wird und keiner klaren, handlungsweisenden Emotion zugeordnet werden kann. 3/16
Sie berichten auch, dass sie ihre Emotionen als nicht beherrschbar wahrnehmen, regelrecht eine „Emotionsphobie“ entwickeln und wenig hilfreiche Verhaltensmuster ausbilden (z.B. Selbstverletzung, Hochrisikoverhalten), um diesen Zustand zu regulieren/aushaltbar zu machen. 4/16
Dieses Störungsbild beeinträchtigt die soziale Teilhabe und die Lebensqualität ganz erheblich, da es sich auf alle Lebensbereiche auswirkt und die berufliche und soziale Integration erschwert. 5/16
Das Dilemma: Eine frühe Diagnose ist problematisch, weil die Adoleszenz eine Entwicklungsphase darstellt, in der wichtige Entwicklungsaufgaben anstehen (z.B. autonome Beziehungsgestaltung), auf die sich viele Symptome der BPS auswirken und diese wiederum verstärken können. 6/16
Zudem sind viele neurobiologische Reifungsprozesse, die die Selbst- und Emotionsregulation betreffen erst mit Mitte 20 „abgeschlossen“. Einige Autor:innen argumentieren, dass sich die Prävalenzraten gerade in dieser Lebensphase deutlich reduzieren:
nature.com/articles/44286… 7/16
Bei der Diagnose kommt erschwerend hinzu, dass bestimmte Symptome Verhalten in der Adoleszenz ähneln. Zwischen einer alterstypischen „Identitäskrise“ und einer pathologischen Identitätsdiffusion ... 8/16
... ist eine Abgrenzung erst anhand der Symptomausprägung, Funktionalität und dem zeitlichen Aspekt möglich. Aber diese Kriterien müssen stärker auf das Jugendalter zugeschnitten werden. 9/16
Zudem ist der Begriff der „Persönlichkeitsstörung“ stigmatisierend & entspricht nicht dem Kern der Störung, der meist eine Biographie, die von sog. Bindungstraumatisierungen (emotional invalidierenden bis zu körperlich übergriffigen Beziehungserfahrungen) geprägt ist, ... 10/16
... die es Kindern/Jugendlichen nicht ermöglicht, einen hilfreichen Umgang mit Emotionen/Impulsregungen zu finden. Wir brauchen Lösungen, um entsprechende Symptome/Problembereiche früh zu erkennen und somit auch gezielt intervenieren zu können. 11/16
In der neuen Fassung der ICD wird z.B. ein alternatives Modell zur Diagnostik vorgeschlagen, das das Augenmerk eher auf Selbst- (Identität, Selbstregulation) und zwischenmenschliche Funktionen legt (Empathie, Nähe). 12/16
Das ermöglicht einen Fokus auf die Symptomatik und die zahlreichen Bedingungsgefüge/Kontexte, in denen bestimmte Symptome auftreten und die Diagnose rückt in den Hintergrund. 13/16
Gestern habe ich darüber geschrieben, wie ich mit ambulatory assessment Methoden genau diese Bedingungsgefüge erfasse – Wann äußert sich bestimmtes Verhalten/Erleben im Alltag? Was waren wichtige Auslöser? Welchen Sinn hat das Verhalten für das Kind/den Jugendlichen? 14/16
Allen, die sich für das Thema interessieren, lege ich die Biographie von Marsha Linehan wärmstens ans Herz. Sie ist die Begründerin der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) – einer der zentralen Behandlungsansätze bei BPS. 15/16
Marsha Linehan selbst hat eine BPS Diagnose, und konnte aufgrund ihrer Erfahrungen die bestmögliche Behandlung über einen langen Zeitraum entwickeln. 16/16

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