Es folgt ein Thread über #Autismus und was Studierenden so beigebracht wird.
Heute ein winziges Beispiel aus dem pädagogischen Umfeld.
Ich zeige Euch einen kl. Ausschnitt aus einem Lehrskript. Dieser Teil ist Prüfungsrelevant und wird abgefragt.
Was ist hier nun bedenklich? 1/x
Diagnostisches Kennzeichen von frühkindlichem Autismus ist zwingend eine zum Diagnosezeitpunkt ausgebliebene oder verzögerte Sprachentwicklung. Das grenzt ihn u. a. vom Asperger Syndrom ab.
Wie kann dann eine Unterteilung dieser Diagnose, also eine verfeinerte Unterscheidung, 2/x
dieser Notwendigkeit widersprechen? Hochfunktionale Autist:innen sind immer(!) frühkindliche Autist:innen die eine Verzögerung in der Sprachentwicklung haben. Sie können demnach nicht "keine sprachliche Beeinträchtigungen" haben.
Dieser Fehler ist eklatant und sollte jedem 3/x
eigentlich sofort auffallen der zum Thema Autismus lehrt.
Das man ansonsten den Unterschied zwischen low und high functioning an den kognitiven Fähigkeiten festmacht ist leider Standard. Man sollte es zumindest verstärkt hinterfragen ob Menschen mit einem niedrigeren 4/x
"funktionalen Niveau" wirklich kognitiv eingeschränkt sein müssen oder ob man hier nicht einem Vorurteil aufsitzt das kognitive Möglichkeiten darüber entscheiden wie funktional ein Mensch sein kann. Dazu kommt natürlich die Frage was wird als "Funktional" definiert und an was 5/x
wird diese Funktionalität gemessen.
Des Weiteren möchte ich auf die Standardabweichung in Intelligenztests hinweisen. Diese beträgt 15 Punkte und kann damit ein Ergebnis sowohl eine leichte, mittelgradige beeinträchtigt und auch eine normale kognitives Leistungsfähigkeit 6/x
bedeuten. Dazu kommt, dass IQ ein künstliches Konstrukt zu Vergleichs- und Messzwecken darstellt das nicht der Praxis entsprechen muss.
Aber zurück zum Autismus und Skript.
Es ist von einem Unterschied Jungen zu Mädchen von 3 bis 4 zu 1 die Rede.
Das ist schon besser als das 7/x
oft zitierte Verhältnis 9 zu 1 (allerdings auf ALLE Diagnosen im Autismus Formenkreis bezogen!).
Hier muss dringend nachgebessert werden. Das tatsächliche Verhältnis von autistischen Jungen zu Mädchen wird in der Realität erheblich ausgeglichener sein. Das erkennt man auch 8/x
an dem mit den Jahren immer mehr steigenden Zahlen an diagnostizieren Mädchen und Frauen.
Hier spielen leider ein Diagnosebias, Vorurteile über autistische Menschen und vor allem die unterschiedliche gesellschaftliche Sozialisierung von Frauen eine große Rolle. Autistinnen 9/x
neigen dazu den Autismus, der genauer dessen von außen sichtbare Symptomatik, zu maskieren. Dies macht eine Diagnose natürlich nicht einfacher. Aber auch hier gilt: Man sollte dieses Phänomen nicht am Geschlecht festmachen sondern gesamtheitlich in die Diagnostik einbeziehen.10/x
Zurück zum Skript und dem Teil Asperger Syndrom.
Warum die Beeinträchtigungen der (sozialen) Interaktionen explizit dort genannt werden erschließt sich mir nicht. Es entsteht der Eindruck dass dies nur Merkmal von Asperger sei. Frühkindliche Autist:innen haben das ebenfalls 11/x
als Merkmal in der Diagnostik stehen. Es ist eine der vielen Gemeinsamkeiten im Formenkreis Autismus.
Gleiches gilt für Beeinträchtigungen des nonverbalen Verhaltens. Gerade frühkindliche Autist:innen, die solange die Beeinträchtigung der verbalen Sprache bestehen, verstärkt 12/x
nonverbal kommunizieren muss dies ja auch betreffen.
Die Frage ist: Was ist eine Beeinträchtigung des nonverbalen Verhaltens? Oftmals wird hier ein Defizit der nichtautistischen Mitmenschen versteckt. Das Defizit generell nonverbale Kommunikation zu sehen, zu lesen und zu 13/xv
verstehen. Wenn man davon ausgeht das ein Mensch seine Bedürfnisse immer bestmöglich versucht zu kommunizieren liegt die Fehlerquelle beim Empfänger der Kommunikation. Streng genommen ist also eine "Beeinträchtigung" der nonverbalen Kommunikation mindestens ein Problem der 14/x
nichtautistischen Kommunikationsempfänger und deren Interpretation und Bewertung.
Ähnlich verhält es sich mit dem "sozial gerichteten Gesichtsausdruck".
Was wird darunter verstanden? Angemessene Mimik? Was ist angemessen wenn Mimik in großen Teilen unbewusst abläuft? Auch 15/x
hier haben wir wieder das Problem was wird warum erwartet.
Nehmen wir den Augenkontakt als häufig erwähntes defizitäres Beispiel.
Warum trainiert man Autist:innen Blickkontakt an? Weil es erwartet wird. Warum wird es erwartet? Weil sich sonst der Kommunikationsempfänger 16/x
unwohl fühlt. Es geht, natürlich vereinfacht ausgedrückt, sehr oft um das Wohlbefinden der anderen Menschen. Wäre es hier nicht angemessener, bevor man zur Wellness der einen mühsam das Verhalten der anderen gegen ihre Bedürfnisse ändert, sich selbst anzupassen und die 17/x
eigene Komfortzone zu verlassen?
Mittlerweile ist es übrigens wissenschaftlich erwiesen: Alle Menschen finden stetigen Blickkontakt als unangenehm. Warum also erst noch erlernen müssen?
Ich gehe davon aus, dass dieses Beispiel mit Beispielen an "sozial gerichtetetem.... 18/x
... Gesichtsausdruck" vergleichbar ist und genauso hinterfragt werden muss.
Weiter im Skript. Gemäß dessen ist es ein Merkmal das Autist:innen kaum auf Gesprächsinhalte und Fragen eingehen können.
Wäre das tatsächlich so dürfte es weder Autist:innen mit Schul- oder höherem 19/x
Abschluss geben. Es wird impliziert das wir entweder nicht das inhaltliche Verständnis hätten, uns inhaltlich verweigern oder einfach woanders mit den Gedanken sind. Alles defizitär und weit ab der Realität. Ich kann es mir nur über die thematisch und kommunikativ manchmal 20/x
dominierenden Spezialinteressen erklären. Oder eben anhand einer absolut nicht auf autistische Bedürfnisse aus- und an sie gerichtete Kommunikation.
"es fehlt ein intuitives Verständnis sozialer Regeln". Wie können Regeln, gerade soziale Umgangsregeln, intuitiv verstanden 21/x
werden? Regeln sind künstliche Grenzen oder Erwartungen und eigentlich immer nicht intuitiv verständlich wenn man weder weiß warum sie aufgestellt wurden noch welchen Sinn diese haben. Wäre es intuitiv bräuchte man sie nicht. Hier wird ein wichtiger Aspekt außer Acht 22/x
gelassen: Soziale Regeln sind oftmals nicht logisch und werden bei Nachfrage mit "Das ist eben so/Das macht man so" begründet und erklärt. Etwas das Autist:innen, die viel über Logik verstehen und erlernen, nicht verarbeiten können.
Kurzum: Versteht ein autistischer Mensch 23/x
eine Regel kann diese auch umgesetzt und angewandt werden. Das blöde dabei ist: Nichtautistische Menschen verhalten sich nicht regeltreu. Mal gilt die soziale Regel, mal nicht. Ergebnis: Verwirrung auf autistischer Seite.
Kommen wir zum letzten aber dennoch wichtigen Punkt 24/x
im Skript: Die oft zitierte und falsch umgesetzte Theory of Mind.
Um zu verstehen warum die ToM ein problematischer Punkt ist müssen wir uns zwei Perspektiven anschauen. Zum einen wie sie in der Praxis mit Autist:innen umgesetzt wird und zum anderen was sie im Kern aussagt 25/x
Fangen wir mit der Theorie an. Die ToM sagt im Kern und dessen was sie beschreibt folgendes aus:
ToM bedeutet die Fähigkeit selbst zu wissen das das eigene Wissen nicht identisch mit dem Wissen anderer ist.
Wenn ich also weiß das ein Bleistift hinter dem Schrank liegt 26/x
weil ich gesehen habe das er gerade dahinter gerollt ist weiß ich der ToM nach das jemand der das nicht gesehen hat das nicht wissen kann.
Es geht also nur darum das eigene Wissen von dem anderer Menschen zu trennen. Nicht mehr. Nicht weniger.
Das ist übrigens etwas das 27/x
Menschen nicht von Geburt an können sondern erst erlernen müssen. Die Entwicklung einer ToM ist ein Entwicklungsschritt.
Knackpunkt 1: es wird oft übersehen, dass das Entwicklungsalter bei Autist:innen verzögert ist. Die sog. Reife liegt also hinter dem physischen Alter. 28/x
Und genau im Entwicklungsalter drücken sich Entwicklungsschritte wie die ToM aus. Es ist also nicht verwunderlich das autistische Kinder die ToM später entwickeln.
Die andere Seite ist wie ToM ausgelegt und angewandt wird.
ToM bedeutet in der Praxis nämlich oft nicht 29/x
das entwickelte Bewusstsein über unterschiedliche Wissensstände von Menschen sondern wird gerne mit Empathie bzw das hineindenken in andere Menschen vermischt.
Also man bekommt ein Bild einer sozialen Situation und damit eine Momentaufnahme einer gänzlich neuen Situation. 30/x
Nun sollen autistische Kinder benennen was eine Person auf dem Bild wohl weiß, denkt oder fühlt. Hallo? Sind wir Hellseher?
Zum einen reicht ein einfaches Bild nicht für komplexe soziale Gefüge.
Zum anderen kann ich nur vermuten was dieser mir unbekannte Mensch denk, fühlt 31/x
oder gar an Wissen hat.
Ist es erstrebenswert das autistische Menschen darüber spekulieren was andere Menschen betrifft? Gerade wenn man sich nie sicher sein kann ob die Spekulation nun wahr ist oder falsch.
Wie gesagt: Die ToM wird viel zu oft als alleiniges Defizit von 32/x
Autist:innen beschrieben und deklariert.
Dabei sind wir, gerade weil wir fast ständig merken das wir anders sind, uns eigentlich sehr klar darüber das unser Wissen eben nicht das Wissen der anderen ist. Nichtautisten gehen dagegen oft davon aus, dass das was für sie 33/x
selbstverständliches Wissen oder intuitive Regeln und Grenzen sind für alle Menschen klar sei. Viele Defizite im Bereich Autismus gründen auf der Annahme(!) das Autist:innen nicht dem entsprechen was als "Norm", normal und allgemeines Wissen und Intuition gesehen wird. ToM grüßt.

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12 Jul
Es ist traurig das es anscheinend so abwegig oder unvorstellbar ist, dass es Behinderungen und Menschen geben kann, für die ein Genderstern in Worten eine Barriere darstellt.
Anstelle das man darauf eingeht und das akzeptiert folgten "Das müsst ihr nur lernen(auszuhalten)" , 1/x
"Also ich bin auch behindert und ich kann das doch auch" oder "Versteckt Eure transfeindlichkeit nicht hinter nicht vorhandenen Barrieren".
Warum dieser Hass wenn Menschen auf Barrieren aufmerksam machen?
Es geht nicht darum das diese Menschen nicht den Sinn und die Gründe 2/x
für und in entgenderter Sprache sehen. Es geht darum das derzeitige Lösungen eine Barriere darstellen. Es muss doch möglich sein ZUSAMMEN eine Lösung zu finden?
Genau darauf wollte ich gestern hinweisen. Was überwiegend kam war die Deklarierung als "Transfeindlich", 3/x
Read 6 tweets
19 Jun
Es gibt immer noch Menschen die das als "normal" ansehen😔
"Das Early Start Denver Model (ESDM) ist ein theoretisch fundierter und empirisch getesteter Ansatz zur Frühintervention bei Säuglingen und Kleinkindern, die Anzeichen von Autismus-Spektrum-Störungen aufweisen."
#Autismus
Aus dem Klappentext einer entsprechenden "Bibel".
Aber uns glaubt man ja nicht das ABA/ESDM bei Kleinkindern und SÄUGLINGEN angewandt wird.
Die Übersetzung wurde von den "Barmherzigen Brüdern" in Linz begleitet und getestet damit man es in D/A/CH auch anwenden kann.
Noch Fragen?
Wann merkt die Politik endlich das der Dreck Kindesmisshandlung und Konversionstherapie ist und man nur eines tun kann: Ächten und unter Strafe stellen.
Säuglinge zu "therapieren" weil diese autistisch sein könnten obwohl man #Autismus in dem Alter nicht feststellen kann!
Read 5 tweets
7 Jun
ABA Verteidiger wehren sich immer recht heftig wenn man Ihnen sagt, dass egal wie "neu" oder anders sie "Ihr ABA" nennen, das Menschenbild immer noch das des Behaviorismus ist. Psychologisch gesehen längst überholt und mehrere Jahrzehnte alt.
#Autismus #NoABA 1/6
Sie entlarven sich aber schnell. Ich habe nämlich noch kein(!)Gespräch erlebt indem es nicht früher oder später nur noch um eines ging:Die autistischen Gesprächspartner:innen zu demütigen, herabzusetzen und anzugreifen. Wir sind keine Menschen auf Augenhöhe. #Autismus #NoABA 2/6
Schnell wird die vermeintlich vorhandene eigene Expertise über die Menschen gestellt die ihr Leben lang Autist:innen sind.
Wozu #Autismus verstehen wenn man doch nur ein Ziel hat? Die leeren Körper zu dem zu formen was man selbst für angemessen und richtig hält. #NoABA 3/6
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16 Dec 19
76% der Autisten die ABA als Therapie bekommen haben zeigten nach einem Jahr KEINE Verbesserung. 9% schnitten schlechter ab. N=16.111
Auch erwähnenswert: bei 42% wichen die von BCBA und Eltern gemachten Angaben über den "Erfolg" signifikant voneinander ab. Woran das wohl liegt?
Die Zahlen entstammen dem Bericht von TRICARE (Gesundheitssystem/-versicherung des US Militärs) an den US Kongress.
1 Jahr ABA kostete 313.700.000 US Dollar. Für etwas das 85% der Autisten nichts oder sogar eine Verschlechterung brachte. Soviel zur "besten Therapie" #Autismus
Spätfolgen von ABA und deren Kosten sind übrigens nicht erfasst.
Ein Bericht über 16.111 Fälle sollte JEDEN aufrütteln und jede ABA Studie mit n=1 bis 50 in den Schatten stellen. Aber das wird auch hier in Deutschland niemanden interessieren weil man es n. sehen WILL. #Autismus
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25 Oct 19
Mal was persönliches zum Thema Antidepressivum.
Ich habe jahrelang (10+)Fluoxetin genommen. Mein Problem war irgendwann das ich mich nicht mehr erinnern konnte wie es vorher ohne war. Problem? Ja. Wenn man den Unterschied nicht mehr kennt merkt man leider auch nicht wenn 1/x
das AD nicht gut wirkt. Es war alles eine einheitliche "Suppe". Das Fluoxetin wirkt war leider mehr Hoffnung und Annahme als Tatsache. Zur "Gefühlssuppe" gehörte dazu dass ich das Medikament nicht hinterfragt habe.
Ich könnte auch sagen: Ich hatte mich damit abgefunden dass 2/x
es so ist wie es ist. Die Depression als meinen "Normalzustand" akzeptiert. Auch mit dem Blickwinkel "Es wird halt nicht besser als jetzt".
Dann kam eine schwere persönliche Krise im Sommer. Verbunden mit einer Suizidalität die ich so stark noch nie erlebt habe. Das ich noch 3/x
Read 12 tweets
24 Apr 19
Das @BMBF_Bund fördert Forschungen zur "Versorgung und Kosten der ASD aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive – was passiert in der Versorgungsrealität und wie kann es besser werden?"
Kurz: Was kostet der einzelne Autist in seinem Leben?
Glaubt Ihr nicht? 1/x
#Autismus
In der Beschreibung steht "Die Lebenszeitkosten eines Patienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung werden für die USA auf etwa 3,2 Millionen US Dollar (2,3 Millionen Euro) geschätzt,wobei ein Großteil dieser Kosten auf Produktivitätsverlust und Betreuung entfällt." #Autismus 2/x
Was sticht ins Auge? "PRODUKTIVITÄTSVERLUST"
AutistInnen verursachen also Kosten weil wir, so geht man davon aus, mit dem #Autismus weniger Produktiv sind als wir sein könnten.
Schauen wir mal in den Ablauf dieser Studie 3/x
Read 13 tweets

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