Immer, wenn gesagt wird „2015 darf sich nicht wiederholen“ denke ich an meine Nacht am Westbahnhof zurück. An die Helfer:innen, die Menschlichkeit. Das hat mich als 11-Jährigen beeindruckt und geprägt. Dafür, wo wir 6 Jahre später angekommen sind, kann ich keine Worte finden.
Als wir am frühen Abend mitbekommen haben, dass am Westbahnhof noch am selben Tag Geflüchtete ankommen würden, bin ich spontan mit meiner Tante losgegangen. Erst zum Penny für Soletti und Zuckerl - der Kassierer, selbst aus Syrien, hat uns bei der Auswahl geholfen. Ohne Gelatine.
Dann in die U6, 3 Stationen zum Westbahnhof. Dort direkt zum Bahnsteig. Als klar wurde: da kommen noch einige dann das Wasser beim DM leergekauft und an Ankommende verteilt. Das war wirklich beeindruckend, wie wir bei weitem nicht alleine waren, wie dort zusammen geholfen wurde.
Vor allem hat es mich aber geprägt, weil ich gesehen und gespürt habe, wie zivilgesellschaftlicher Zusammenhalt wirken kann. Jetzt gibt es in Afghanistan wieder so ein prägendes Ereignis für mich und unzählige junge Menschen, aber im negativen Sinne.
Ich habe wirklich Angst davor, was die aktuelle Situation mit meiner Generation machen wird. Wie sollen wir noch an irgendetwas glauben, irgendeine Hoffnung haben, wenn hier einfach zugesehen und nicht gehandelt wird. Sollen das unsere Vorbilder sein?
Das schlimme ist ja, dass wir es fast gewohnt sind, mit solchen Ereignissen konfrontiert zu sein. Wir wachsen auf mit Trump, Klimakrise, Kurz, Corona, etc. Aber für mich ist das, was gerade passiert, ein neues Tief.
Ich tu mir wirklich schwer, das zu beschreiben. Ich kann und will nicht zulassen, dass wir das als Normalität hinnehmen. Dass wir am Ende gefühllos und betäubt werden von all den Katastrophen, die uns unser Leben lang begleiten und weiter begleiten werden.
Aber diese Ereignisse eröffnen, so abartig das auch ist, auch eine Chance. Wir alle sind von ihnen betroffen, uns bleibt irgendwann letztendlich keine andere Wahl mehr, als uns zu politisieren und kompromisslos für eine bessere Welt zu kämpfen.
Eine Szene vom Westbahnhof 2015 hat sich ganz besonders stark in mein Gedächtnis eingebrannt: Ein Junge, etwa so alt wie ich, stand am Bahnsteig auf einem Mistkübel und hat schreiend nach seinen Eltern gesucht.
Der Junge wurde von Helfenden herumgetragen und beruhigt. Mit Hilfe konnte er seine Eltern wiederfinden.
Aber den Kindern, die jetzt in Afghanistan leiden, wird nicht geholfen. Den Frauen, die bald vielleicht nicht mehr auf die Straße gehen können, wird nicht geholfen. Den Aktivist:innen, die nun quasi auf ihren Tod warten, wird nicht geholfen.
Statt Politiker:innen, die jetzt parteiübergreifend dafür sorgen, dass unser Staat seiner humanitären Verantwortung gerecht wird und so viele Menschen wie möglich und gerade Kinder und Frauen aufnimmt, wird eine kriegerische, verachtende Rhetorik verwendet.
Mit einem Innenminister, der Abschiebungen nicht wegen seines Gewissens stoppt, sondern nur aufgrund der „Grenzen“, die die europäische Menschenrechtskonvention setzt.
Was ich in dieser Nacht am Westbahnhof gelernt habe: Verlassen können wir uns auf fast niemanden. Wir müssen alles dafür tun, es irgendwann selbst in der Hand zu haben. Ich werde nicht aufgeben.

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