Aus gegebenem Anlass einige Worte zum "gesunden Menschenverstand": Dieser Begriff suggeriert, dass es sozusagen axiomatische Auffassungen gibt, die als letzter Grund keiner weiteren Begründung bedürfen, sondern von jedem eingesehen werden müssen. 1/8
Diese Idee ist uralt und zieht sich seit der Antike durch die Denkgeschichte. Sie wird von eigentlich allen totalitären Herrschaftsformen bemüht - aber nicht nur von diesen - um Vorrechte zu begründen, die sich aus dem Gesetz oder der Denklogik heraus nicht begründen lassen. 2/8
Der Begriff "gesunder Menschenverstand" wurde in Deutschland insbesondere von Immanuel Kant geprägt, der damit aber etwas völlig anderes gemeint hat. Kant meinte, dass es Anschauungen gebe, zu denen jeder Mensch gelangen müsse, wenn er nur seine Vernunft benutze. 3/8
In der Romantik hat man das ins Gegenteil verkehrt, indem man das Wissen um das "richtige Recht" vollständig von der Vernunft entkoppelt und zu deren Gegenpart gemacht hat. Bei Savigny hieß das "Volksgeist", bei Julius Hermann von Kirchmann "der Geist, wie er im Volke wohnt". 4/8
Gemeint war mit solchen Begriffen immer ein kritikloser Rückgriff auf Anschauungen, die man nicht begründen konnte oder wollte, und die entsprechend romantisierend im Herzen statt im Kopf verortet wurden. Wes Herzen rein ist, der wird das Recht erkennen, heißt es da. 5/8
Die Nazis - deren Wurzeln ja überhaupt in erschreckender Weise in der Romantik liegen - haben dieser Idee dann einen zusätzlichen Twist gegeben, indem sie "gesund" wörtlich genommen und alle (von ihren eigenen Anschauungen) abweichenden Meinungen pathologisiert haben. 6/8
Dort, wo nicht das dann "gesundes Volksempfinden" genannte Gefühl herrschte, war der "Volkskörper" krank. Die Metaphorik ist zutiefst wissenschaftsfeindlich, hochgradig ideologisch und dient ausschließlich dazu, Andersdenkende grundlos zu diskreditieren. 7/8
Umso erschütternder ist es, wie hartnäckig sich diese Idee mitsamt dem pathologisierenden Ansatz im demokratischen Rechtsstaat als "gesunder Menschenverstand" immer noch hält. Das Recht besteht aus Regeln, die man mit dem Verstand lernen muss. Das Herz pumpt nur Blut. 8/8
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Über diese Pressemitteilung der Polizei Hamburg wurde sich aus meiner Sicht noch lange nicht genug aufgeregt. Der Eindruck, der hier erweckt werden soll, ist rechtlich schlicht falsch, und das finde ich bei einer Pressemitteilung der Polizei schon bemerkenswert. 1/
Im Text heißt es unter anderem: "Klar ist, dass die Polizei ihrem gesetzlichen Auftrag Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen nachkommen muss." Liebe Leute, das ist nicht nur nicht "klar", es ist schlicht falsch. 2/
Jeder polizeiliche Eingriff muss eine Rechtsgrundlage haben und verhältnismäßig sein. Dies muss erkennbar geprüft werden und es gehört zur Aufgabe der Polizei, auch einmal gerade nicht einzugreifen - z. B. dann, wenn der Eingriff zwar unverhältnismäßig wäre. 3/
Aus gegebenem Anlass, roter Sauce und überhaupt, erkläre ich Euch heute mal, was eine Beleidigung ist. Spoiler: Es genügt nicht, dass sich jemand beleidigt fühlt. Dies ist zwar notwendige Voraussetzung, nicht aber hinreichend für den Tatbestand der Beleidigung. 1/
Inhalt jeder Beleidigung ist der Ausdruck der Missachtung gegen einen anderen. Zutreffende Tatsachenbehauptungen und wertneutrale Bezeichungen sind jedenfalls keine Beleidigung. Begriffe wie "Schwuler" oder "Jude" sollen danach keine Beleidigungen sein. 2/
Davon soll es Ausnahmen geben, und jetzt wird es schon arg schwierig. So sollen solche Äußerungen doch Beleidigungen sein können, wenn sie "in rassistischem Zusammenhang und diskriminierender Absicht" gesprochen werden oder der Bezeichnung eine abwertende Konnotation zukommt. 3/
Wo ich gerade dabei bin, hier noch einige Worte zu der derzeit unvermeidlichen Lisa Eckhart:
Ich habe als Jugendlicher immer Dieter Hildebrandt geguckt. Der hat meistens großartige Sachen gesagt, aber ich habe nie darüber gelacht, und er hat sie wohl auch nie witzig gemeint.
1/
Genervt haben mich damals schon die Zuschauer, die bei bestimmten Themen (heute würde man "Buzzwords" sagen) wie auf Kommando gelacht haben. Das war wohl eher aus tief empfundener Erleichterung, dass jemand offenbar ihrer Meinung war und die auch noch geäußert hat.
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Ich kann mir vorstellen, dass es bei Lisa Eckhart auch viele Zuschauer gibt, die deshalb lachen. Denn witzig ist auch Lisa Eckhart nicht. Es gibt aber einen anderen, wesentlichen Unterschied zu Dieter Hildebrandt: Dessen Stilmittel waren die verschiedenen Formen der Ironie.
3/
TW: Mittwochs-Rant
Was mich zunehmend nervt, ist das naiv-romantische Weltbild, das manche Leute hier, aber auch im richtigen Leben mit unheimlicher Aggressivität vortragen. Die Grundannahmen dieser Leute gehen in etwa so:
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1. Es gibt absolute Wahrheit und Gerechtigkeit. 3. Diese absolute Wahrheit und Gerechtigkeit kann auch jeder erkennen, der reinen Herzens und guten Willens ist. 3. Alle anderen sind entweder dumm oder bösartig.
Man selbst gehört natürlich immer zu denen, die sie erkannt haben.
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Aus dieser Überzeugung urteilen diese Menschen erbarmungslos auch über komplexeste Sachverhalte, von denen sie keinerlei Ahnung haben. Wenn man es doch fühlt. Diese Menschen müssen auch nichts erklären, schließlich versteht sich das Absolute von selbst.
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2.) Dort ist zutreffend von der Prüfung eines Anfangsverdachts wegen Bestechlichkeit eines Mandatsträgers, § 108e StGB, die Rede.
3. Mir ist völlig unerfindlich, warum selbst ehemals seriöse Presseorgane wie z. B. @DIEZEIT nicht einmal in der Lage sind, diesen Sachverhalt richtig abzuschreiben. Stattdessen ist von Bestechlichkeit eines Amtsträgers die Rede; Amtsträger ist Philipp Amthor unstreitig nicht.
4. Soweit ich das bei überschlägiger Sichtung beurteilen kann, hat die Presse diesen Fehler durchgehend voneinander abgeschrieben;, wer damit angefangen hat, ist nicht erkennbar. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin war es jedenfalls nicht.
Ich habe mich gestern mit einem Kollegen unterhalten, der sich während des Gesprächs als "Corona-Skeptiker" herausstellte. Das Gespräch verlief freundlich, wenn wir auch nicht hinsichtlich aller Fakten einer Meinung waren. Dabei ist mir aber noch etwas anderes aufgefallen: 1/
Manche Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, in Kontingenzen zu denken. Kontingenz ist ein Zustand, der mehrere alternative Entwicklungen zulässt, die alle möglich sind, von denen aber keine zwingend ist. In diesem Zustand ist Widerspruch einigermaßen sinnlos. Beispiel: 2/
Wenn ich sage: "Geht nicht in die Sümpfe, da könnten giftige Schlangen sein, die Euch vielleicht beißen" sind folgende Einwände per se unsinnig:
- Vielleicht sind da gar keine Schlangen.
- Vielleicht sind die gar nicht giftig.
- Vielleicht beißen die gar nicht. 3/