Ok, am Beispiel der Entscheidung von @MatthiasHoehn heute ein bisschen politische Bildung. Ich hab‘s schon öfter erklärt, aber die falschen Vorstellungen sind tief verwurzelt. #Gewissen #Fraktionszwang 1/15
Nach dem #Grundgesetz (Art. 38 Abs. 1) sind #Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen. Das GG kennt keinen „Fraktionszwang“. Mit Ausnahme eines später ergänzten Artikels (53a), der davon ausgeht, dass es sie gibt, kennt es ursprünglich noch nicht einmal Fraktionen! 2/15
Meine Fraktion hat mir also nach dem Grundgesetz überhaupt nichts zu sagen. Warum ist es trotzdem nicht nur normal, sondern im Parlamentarismus zwingend angelegt, dass Abgeordnete fast immer auch dann mit ihrer Fraktion abstimmen, wenn sie inhaltlich anderer Meinung sind? 3/15
Die repräsentative Demokratie funktioniert nach einem ganz einfachen Prinzip. Bürgerinnen und Bürger schließen sich zu Parteien zusammen, weil niemand alleine etwas durchsetzen kann. 4/15
Abgeordnete schließen sich aus dem gleichen Grund zu Fraktionen zusammen. Und stehen damit in einer doppelten Loyalitätspflicht. 5/15
Als sie sich haben aufstellen lassen, haben sie ihrer Partei versprochen, in deren Sinne Politik zu machen. 6/15
Und als sie sich ihrer Fraktion angeschlossen haben, haben sie den Fraktionskollegen und -kolleginnen versprochen, mit ihnen gemeinsam abzustimmen. Denn nur Geschlossenheit macht eine Fraktion stark und durchsetzungsfähig. 7/15
An diese beiden Versprechen sollte man immer denken, wenn man versucht ist, Abgeordnete mit erhobenem Zeigefinger an die Gewissensbindung des Art. 38 zu erinnern. Denn ob ich mich an mein gegebenes Wort halte oder es breche, ist eine ganz zentrale Gewissensfrage. 8/15
Der sogenannte „Fraktionszwang“ ist nur ein Wort für das äußere Erscheinungsbild der Bindung von Abgeordneten an ihr gegebenes Wort. Er ist nicht real, nicht einklagbar und nicht durchsetzbar. Abgeordnete haben keine Vorgesetzten, die ihnen Anweisungen geben könnten. 9/15
Aber nochmal: Wir wissen alle, dass nur Einigkeit uns stark und durchsetzungsfähig macht. Und: Wenn alle machen, was sie wollen, wird die Republik unregierbar, zum Nachteil des Volkes, das uns in den Bundestag entsandt hat. 10/15
Deshalb werden wir uns in aller Regel hüten, unser eigenes Gutdünken über die Mehrheitsmeinung der Fraktion zu stellen. Die Schwelle dafür ist hoch, für jeden und jede individuell unterschiedlich hoch, aber für alle sehr hoch. 11/15
Der Kollege @MatthiasHoehn hat für sich entschieden, dass er sie heute übertreten muss. Das ist ihm mit Sicherheit sehr schwer gefallen. Um so mehr ziehe ich meinen sinnbildlichen Hut vor seinem mutigen Ja zu einer auch nach meiner Auffassung richtigen Maßnahme. 12/15
Er stand vor der Entscheidung, ob er sein Wort hält oder seiner inhaltlichen Überzeugung folgt. An einem von beiden musste er sich versündigen. Eine elende Situation für Abgeordnete. 13/15
Ich habe mich in vergleichbaren Situationen übrigens am Ende immer für das gegebene Wort entschieden - ohne auszuschließen, dass es auch einmal anders hätte ausgehen können. 14/15
Aber wenn ich in dieser Zwickmühle war, ging es nie um Leben und Tod. Ich nehme an, dass das heute für Matthias Höhn den Unterschied gemacht hat. Und dafür danke ich ihm. 15/15

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