Ich mag theoretische Fragen. Deshalb finde ich es toll, wenn die Leute diskutieren, ob "Weißsein"/"Schwarzsein" ein "Konstrukt" ist. Hier kommt ein kleiner Versuch, allerseits wohlwollend aufzudröseln, auf welchen Ideen diese Perspektive eigentlich beruht. Warnung: langweilig. |1
2| Kurze Vorbemerkung: Das ist ein Textchen für interessierte Laien, die sich vielleicht über die Idee von "sozialen Konstrukten" wundern oder einfach mal einen Blick unter die theoretische Motorhaube werfen wollen. Für Aficionados hat das hier sicherlich viel zu wenig Tiefgang.
3| Am Anfang steht diese Frage: Wie ist unsere Welt in Wahrheit beschaffen? Und jetzt stellen Sie sich mal vor, die vielen möglichen Antworten auf diese große Frage befinden sich auf einem Spektrum.
Am einen Ende dieses Spektrums finden wir Annahmen wie die folgenden vor:
4| "Was die Dinge um uns herum sind, ergibt sich aus den materiellen Eigenschaften dieser Dinge selbst. Wir sind nur Beobachter. Indem wir die Dinge untersuchen, können wir ihre Natur erkennen." Weißsein z. B. wäre nur eine Frage von Pigmenten oder Genen oder ähnlichen Faktoren.
5| Auf so einer Weltsicht beruht nicht nur die allermeiste Naturwissenschaft, auch im Alltag tendieren Menschen (vermutlich aus ganz pragmatischen Gründen) zu solchen Annahmen. Wir verlassen uns z.B. auf das, was unsere Augen uns zurückmelden. Weiß ist, wer weiß aussieht.
6| Gehen wir ans andere Extrem des Spektrums. Dort finden wir solche Annahmen vor: "Was die Dinge um uns herum sind, ist alleine menschengemacht. Dinge haben keine innere Natur, keine 'Essenz'. Sie bestehen aus Ideen. Menschen beobachten nicht bloß, sie erschaffen Realität."
7| Aus dieser Sicht haben Pigmente, Gene u.ä. keinerlei inhärente, zwingende Verbindung zum Weißsein, weil Weißsein alleine aus Ideen besteht, die wir durch Sprache und Kultur gemacht haben. Dinge sind "sozial konstruiert". Sie sind nie fix, sie könnten immer auch anders sein.
8| Zwischen den Enden des Spektrums liegen endlose Varianten dieser Ideen. Sie könnten z.B. sagen: "Die Dinge haben eine feste Essenz, aber wir nehmen sie immer durch den Filter unserer Ideen wahr." Oder: "Ideen und materielle Faktoren ergeben zusammen die Realität einer Sache."
9| Ich für meinen Teil sehe mich in der Nähe dieses letzten Statements. Ich habe deshalb auch kein Problem mit der Idee, dass Weißsein (oder z.B. auch Gender) sozial konstruiert ist, wenn damit gemeint ist, dass Menschen aus Biologie und Ideen eine neue Sache ("Weißsein") bauen.
10| Ich schätze, man erzeugt vor allem dann Abwehrreaktionen, wenn man argumentativ ans Ende des Spektrums geht und sagt, Hautfarbe habe --nichts-- mit Weißsein zu tun. Dann ist man im Territorium von "Dinge sind nur Ideen" und prallt frontal gegen die Alltagspragmatik der Leute.
11| Man muss eigentlich auch gar nicht so argumentieren. Die Idee verliert ja nichts, wenn man sie in die Mitte des Spektrums zieht: "Weißsein ist nicht nur Hautfarbe. Weißsein besteht aus Biologie und kontingenten sozialen Ideen über Biologie." Da würde ich im Grundsatz nicken.
12| Falls es tatsächlich irgendjemand bis hierhin geschafft hat: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dieser Thread hatte irgendeine Art von Mehrwert für Sie und trägt vielleicht ein winziges bisschen zur Konstruktivität der Debatte bei.

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10 Oct
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3| Das klappt nicht immer, aber besonders dann gut, wenn individuelle Faktoren (z.B. kognitive Verzerrungen) eine einzelne Vorhersage prägen. Dann gleicht das Zusammenführen vieler Datenpunkte solche Verzerrungen teilweise aus und produziert vergleichsweise akkurate Resultate.
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30 Sep
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