Als Kind kam mir Realität konsistenter vor, mit drei Fernsehprogrammen und ohne Internet, aber das war eine Illusion. Den Spiegel habe ich in den 1980ern aufgehört zu lesen, weil ich hinterher immer schlechte Laune hatte und das Leben und das Land gar nicht so schlimm fand, wie..
...es den Artikeln nach war. Ich habe auch gelegentlich viele Wochen in der CSSR verbracht, nur mit tschechischen Medien, und da war die mediale Realität auch nicht deckungsgleich mit den Alltagserfahrungen. Ich hatte also als Jugendlicher vier verschiedene "Realitäten" ...
...zu managen, dazu noch Religion, die nicht zur Wissenschaft passte. Dass es im Westen besser war, als im Osten, daran bestand für mich kein Zweifel, und ich war froh, in Deutschland aufwachsen zu können; der Osten war grau, rückständig, autoritär, korrupt und kaputt.
Gleichheit gab es nicht wirklich; es zählte vor allem, an welcher Stelle man den Staat bestehlen und welche Verbindungen man nutzen konnte, um den eigenen Lebensstandard zu heben, und das schien mir auch der "nichtmediale" Konsens zu sein, wie das Leben im Sozialismus läuft.
Medial gab es im Osten im Fernsehen vor allem Erfolgsgeschichten, sozialistische Großereignisse, Bildung und Unterhaltung, und im Fokus standen Länder und Ereignisse, die im Westen medial nicht vorkamen. Die Welt in den Ost- und Westmedien schienen mir wie Paralleluniversen,...
...fast ohne Überschneidungen. Nach meiner Rückkehr habe ich immer etwas gebraucht, um die mediale "Westwelt" zu aktualisieren. In den 1990ern habe Wochen ohne Zeitung, Fernsehen, Telefon oder Internet auf dem Land verbracht, und es war auch interessant, wie friedlich die Welt...
...plötzlich war, kein Krieg, kein Hunger, keine Ungerechtigkeit, keine Skandale, die Welt lief einfach nur vor sich hin, Essen, Schlafen, die Natur erkunden und im Garten und Haus mit den Händen arbeiten und Bücher lesen. Klingt toll, ist aber nichts, was meine ...
...Bedürfnisse nach sozialer Eingebundenheit und Kompetenz auf Dauer befriedigen kann. Als vorübergehende Erfahrung fand ich so eine mediale Isolation doch deutlich bewusstseinserweiternd.
Seitdem hat mich immer wieder die Frage nach dem Wesen der Realität beschäftigt, die mir in weiten Teilen beängstigend variabel und inkonsistent zu sein schien. Physik, Mathematik und Computer haben mir in dieser Realität einen festeren Anker gegeben, aber auf viele Fragen ...
...auch keine Antworten geben können. Religion war ich mit 8 oder 9 raus, Gott war der Weihnachtsmann, die Bibel kryptisch, und Philosophen zu beliebig und zu abstrakt und einfach "too much".
Philosophie ist eigentlich der Ursprung aller Wissenschaften, aber selbst keine methodische Wissenschaft, sondern ein gigantisches Feld voll mit hochgeistigen Ergüssen, anstrengend zu rezipieren und so mit wohlklingendem Unsinn vollgestopft, dass es ...
...mir unglaublich schwer fällt, die Perlen zu finden, und selbst, wenn ich mir Kant vornehme, was soll ich mit seiner Rassentheorie machen? Welche Relevanz hat das für seine anderen Äußerungen? Und gibt es eigentlich überhaupt etwas in der Philosophie, das nicht umstritten ist?
Ich meine, bei Einstein weiß ich, was ich habe, seine Theorien funktionieren, und eine bessere Theorie wird sie nicht widerlegen, sondern verfeinern. Dasselbe gilt für die Quantentheorie. Aber gibt es so etwas in der Philosophie? Ein unbestrittenes Fundament?
Aristoteles erschien mir früher als "der Vater unseres westlichen Denkens", aber dem Ursprung und den großen Existenzfragen hat mich das auch nicht näher gebracht. Aristoteles lesen ist aber super zum Einschlafen, faktisch alles anstrengende, das "die Batterie tiefentlädt".
Wir sind aber viel weiter als Aristoteles, und die Naturwissenschaften dürften haufenweise philosophische Erkenntnisse unhaltbar gemacht haben, aber wie soll man das aussortieren? Und wer? Ich meine, allein die Mammut-Enzyklopädien der Philosophie sind vom Umfang übermenschlich.
Kennt ihr Philosophen, die auf der Höhe der Zeit sind und eine kompakte, brauchbare Theorie unserer Realität haben, die mit den Wissenschaften im Einklang steht? Oder muss man sich das selbst erarbeiten?

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29 Oct
Facebook nennt sich jetzt meta. Und will das Metaversum sein. Oder bauen. Ich bin da mehr als skeptisch, wo die doch bisher mit einer Webseite überfordert waren. Ein Metaversum hat noch niemand vernünftig hinbekommen, obwohl viele es versucht haben, ich auch.
Dafür gibt es viele Gründe, aber das Hauptproblem ist, dass wir 3D-User-Interfaces nicht können. Wir haben nach über 30 Jahren VR keine gute Hardware für 3D-Interaktion, und wissen noch immer nicht, wie wir die dritte Dimension produktiv nutzen können.
Was bräuchte man, um das Problem zu lösen? Nun, ein leichtgewichtiges HMD in Brillenform, das mit Adaption, Akkomodation und Augenbewegung harmoniert und Retina-Auflösung im gesamten, möglichst weiten Blickfeld liefert und den ganzen Tag getragen werden kann. Und die Realität:
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26 Oct
Fußballer waren eigentlich nie für Intellektuelle Höchstleistungen bekannt, und von jungen Männern Mitte 20 erwartet man auch keine bedächtige Weisheit. Jemanden mit einer weniger relevanten Meinung zum Thema Impfung muss man lange suchen, aber jeder Prominente hat nun mal …
…Aufmerksamkeit für alle Äußerungen, und Medien fragen Prominente gern nach Dingen, von denen diese keine Ahnung haben, auch in der Hoffnung, dass die sich dabei zum Obst machen, so wie dieser Bayern-Profi, der gerade das Klischee bedient, dass wer es nicht im Kopf hat, es …
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23 Oct
Wie viel rassistische Denkmuster tragt ihr so mit euch rum? Nun, wenn ihr Obama als "den ersten schwarzen US-Präsidenten" gefeiert habt, dann habt ihr vielleicht auch das Konzept der weißen Rassenreinheit im Kopf, denn Obama ist zu 50% "weiß" und zu 50% "schwarz", aber ...
...weißes Vorherrschaftsdenken ist exklusiv und von einer "Reinheit der Rasse" besessen und so verbreitet, so dass Obama "allgemein" als Schwarzer, aber nicht als Weißer durchgeht. In euren Augen auch? Wenn ja, warum?
Habt ihr vielleicht auch ein Bild von weißer Reinheit im Kopf, wo "Farbe" eine Verunreinigung ist, und Weiß nur Weiß ist, wenn da keine "Farbe" drin ist? Früher galt in den USA für die Volkszählung explizit, dass egal wie gering der Anteil "schwarzen Blutes" ist,..
Read 25 tweets
19 Oct
Erscheint nur mir die Geschichte um #Reichelt etwas nebulös? Ist da mehr, oder ist es einfach genau das, was wir gerade in der Presse lesen können? Egal, wo man politisch steht: Er hat offenbar in einem Konzern, der ihm nicht gehört, Sexualpartnern Karrierevorteile verschafft,...
...und das ist mindestens Korruption zum Schaden des Konzerns. Völlig unabhängig davon, für wie verwerflich man es hält, wenn ein Chef Sex mit Mitarbeiterinnen hat. Der Chef und die Sekretärin, der Arzt und die Krankenschwester, das sind alles nicht nur Filmtrope,...
...sondern akzeptierte Normalität. Vor dem Internet wurden 2/3 aller Ehen in der Firma angebahnt, und aktuell dürfte es noch immer ein erheblicher Teil sein, und Affären in der Firma sind jetzt auch nicht Unerhörtes.
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19 Oct
Finde, @Apple-Produktvorstellungen werden immer peinlicher. Die neuen Macbooks jetzt mit echten Funktionstasten, HDMI-Port und Magsafe. Wie vor 2017. Hurra! Für wie blöd haltet ihr eure Kunden eigentlich?
Und was wird jetzt aus der Touchbar? Wo sie allmählich anfängt, Nutzen zu entfalten, obwohl die Umsetzung so schlecht ist? Mit miesem Ansprechverhalten und -verzögerung, schlechtem Kontrast und fehlendem Feedback? Statt einer besseren Touchbar also wieder Tasten?
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17 Oct
@pia_lamberty @JRehborn Geistes- und Kulturwissenschaften sind oft politisch, werden gern von der Politik instrumentalisiert oder dienen zur Legitimation politischer Entscheidungen und haben historisch auch viel Unheil angerichtet, etwa bei Rassentheorien, Eugenik und Euthanasie, und die ...
@pia_lamberty @JRehborn ...ganzen "Therapien" wie Elektoschocks und Lobotomie sind auch nicht vergessen. Dazu die Reproduzierbarkeitskrisen, und man braucht sich eigentlich nicht wundern, wenn Geistes- und Kulturwissenschaften oft wenig Vertrauen genießen und Ergebnisse politisch angegriffen werden.
@pia_lamberty @JRehborn Ich denke aber, es gibt Fortschritt, und wir verstehen zunehmend besser, wie Menschen allein und in Gruppen funktionieren und wie sich das Geschlecht auswirkt. Problem ist aber, dass viele dieser Erkenntnisse unser Weltbild so sehr in Frage stellen, dass es für ...
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