Klar: Eine hohe Durchimpfungsquote bremst die COVID-Ausbreitung. Trotzdem verbreitet sich jetzt wieder eine Studie, die angeblich das Gegenteil behaupten soll. Tut sie aber nicht. Ein näherer Blick ist interessant, sehen wir uns das an. (Thread)
"Studie" ist eigentlich ein zu großes Wort. Es handelt sich um eine "Correspondence", also einen kurzen Aufsatz in einem Fachjournal, aber ok. Nachzulesen hier: link.springer.com/article/10.100…
Die Autoren suchten nach einem Zusammenhang zwischen regionaler Durchimpfungsrate und COVID-Inzidenz. Gefunden haben sie nicht wirklich was. Beweist das, dass es keinen Zusammenhang gibt? Nein. Wenn ich meine Brille nicht finde, beweist das auch nicht, dass ich keine Brille habe.
Zunächst wählen die Autoren 68 Länder und sehen sich sowohl Durchimpfungsrate als auch die 7-Tages-Inzidenz an. Wenn die Impfung gut wirkt, könnte man ja erwarten, dass Länder mit hoher Impfquote geringe Inzidenz haben.
Die Daten zeigen aber kaum Zusammenhang, die Ausgleichsgerade hat sogar positive Steigung - das würde bedeuten: höhere Impfquote geht sogar mit höherer Inzidenz einher. So sieht das aus: Wirres Datengewusel, kaum Struktur.
Natürlich muss da jeder, der je ernsthaft mit wissenschaftlichen Studien zu tun hatte, laut aufschreien: Was ist mit den confounding variables!? Man kann nicht einfach so alle Länder in einen Topf werfen, wenn es ganz fundamentale Unterschiede gibt.
Hier werden Länder, die sich gerade in der 4. Welle befinden, mit Ländern verglichen, bei denen die Situation gerade ganz gut ist. Das ist als würde ich die Sonneneinstrahlung in unterschiedliche Ländern vergleichen, und nicht bedenken, dass in manchen Ländern gerade Nacht ist.
Das müsste zumindest im Text diskutiert werden - wird es aber nicht. Noch mehr Kopfschütteln verursachen die Vergleiche im Text: Island & Portugal werden mit Vietnam & Südafrika verglichen- in ersteren höhere Impfquote, aber in letzteren aber niedrigere Inzidenz. Ernsthaft jetzt?
Südafrika ist auf der Südhalbkugel, mit gegenläufiger Saisonalität. Und Vietnam ist ohnehin ein sehr spezieller Fall mit unfassbar niedriger Inzidenz, wegen sehr strenger Maßnahmen. Das beweist bloß, dass strenge Maßnahmen wirken - auch bei niedriger Impfrate. Ja, klar.
Natürlich gäbe es noch jede Menge anderer Variablen, die man herausrechnen müsste, von Test-Anzahl bis Qualität des Gesundheitssystems. Das ist eigentlich Standard in der Epidemiologie. Ich verstehe nicht, warum nichts davon hier vorkommt.
Dann kommt der 2. Schritt: Nun werden US-counties verglichen. Gibt es hier einen Zusammenhang zwischen Impfquote und Inzidenz? Das finde ich interessanter als Schritt 1, innerhalb der USA sollten die Zahlen zumindest eher vergleichbar sein als über den ganzen Globus hinweg.
Jetzt wird's schräg: Hier sehen wir kein Scatterplot mit Ausgleichsgerade wie in Schritt 1 (was bei der Fragestellung die logischste Darstellungs- und Untersuchungsmethode ist) sondern Counties nach Impfrate gepoolt, mit durchschnittl. Inzidenz. Mein Kopfschütteln wird heftiger:
Die Autoren meinen: "Es scheint kein signifikantes Signal zu geben." Ach, wirklich? Für mich sieht das schon aus, als ginge das rechts mit hoher Impfrate nach unten. Warum steht hier kein Korrelationskoeffizient, keine Ausgleichsgerade? Das wären doch hier Standardmethoden!
Wie auch immer: Seien wir großzügig und sagen wir, dass die Daten keinen Zusammenhang hergeben. Was heißt das dann? Nun, dass offenbar nicht gut gesucht worden ist. Andere finden den Zusammenhang nämlich ganz klar. Z.B. hier: systems.jhu.edu/research/publi…
Da ist es auch, das Scatterplot mit Ausgleichsgerade, das ich vorhin vermisst hatte. Und ja: Höhere Impfrate korreliert mit niedrigerer Inzidenz. (Sogar mit logarithmischer y-Achse, was hier auch Sinn macht). Alles wie erwartet, vielen Dank.
Und natürlich gibt es vergleichbare Hinweise auf niedrigere Inzidenz bei höherer Durchimpfungsrate auch anderswo. Entscheidend ist immer der Gesamtblick auf alle Daten, nicht eine einzelne Studie, die nur einen bestimmten Aspekt beleuchtet.
Trotz allem: Auch diese (meiner Meinung nach fragwürdige) Studie sagt NICHT, dass Impfen nicht wirkt, so wie das jetzt von Impfgegnern dargestellt wird. Das sieht sogar der Autor der Studie so, der hier dazu befragt wurde: faktencheck.afp.com/http%253A%252F…
"Daher bekräftigt die Analyse die Impfung als wichtige Strategie zur Verringerung der Infektion und der Übertragung", sagt der Autor. Also das Gegenteil von dem, was ihm jetzt von Impfgegnern in den Mund gelegt wird.
Zusammenfassend: Der Zusammenhang zwischen Impfquote und Inzidenz ist komplex, weil auch viele andere Variablen eine Rolle spielen. Aber dass die Impfung die Ausbreitung der Krankheit und auch die Zahl der COVID-Toten senkt, steht außer Zweifel. Lasst euch impfen, geht boostern!

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