Ich bin immer noch gegen eine allgemeine Impfpflicht. Klar: Starke Einschränkungen für Ungeimpfte sind unvermeidlich. Aber allen Menschen eine Impfung unter Strafandrohung vorzuschreiben halte ich derzeit für höchst problematisch. (Thread)
Eine Impfung ist natürlich eine Verletzung der körperlichen Selbstbestimmung. Sie ist ein medizinischer Eingriff, man bekommt eine Nadel in den Körper. Ich glaube, eine solche Maßnahme vorzuschreiben ist nur bei sehr großem gesellschaftlichem Konsens möglich.
Wenn 1 Promille der Bevölkerung dagegen ist, kann man diese Minderheit überstimmen, ohne mit üblen Folgen rechnen zu müssen. Aber ich glaube, eine Minderheit von 20% kann man nicht auf diese Weise überstimmen. Es gibt so etwas wie eine praktische "Impfpflicht-Sperrminorität".
Das Hauptproblem ist für mich: Man kann es Leuten nicht mehr verübeln, Angst vor der Impfung zu haben. Es schwirrt mittlerweile derartig viel Fehlinformation und antiwissenschaftlicher Unfug herum, dass ich es verstehe, wenn manche Leute manches davon glauben.
Oft ist es schwierig, sich selbst ein Bild zu machen. Oft ist es schwierig, verlässliche von unzuverlässigen Quellen zu unterscheiden. Natürlich kann man das machen - wenn man Zeit hat, und ein bisschen Ahnung von Wissenschaft. Aber kann man das von jedem verlangen? Nein.
Meine Oma wird keine wissenschaftlichen Studien im Internet runterladen. Und niemand kann das von ihr verlangen. Man muss sich auf das verlassen, was man aus seinem Umfeld aufnimmt. Und das ist derzeit leider in gewaltigem Ausmaß von Falschmeldungen durchzogen.
Das heißt aber: Man kann Leuten, die ein wissenschaftlich falsches Bild von Pandemie und Impfung haben, nicht böse sein. Scharf kritisieren soll man Leute aus Journalismus, Politik und Medizin, die diesen Unsinn verbreiten- ihr Job wäre es schließlich, Fake News entgegenzuwirken.
Diese Kontrollmechanismen haben versagt. Dazu zähle ich mich auch selbst. Ich habe viel über Corona geschrieben, mich bemüht, Fakten zu liefern - aber wir alle waren darin offenbar nicht gut und effektiv genug. Das ist schlimm, aber so ist das jetzt nun mal.
Und ich glaube, in einem solchen gesellschaftlichen Umfeld kann man keine Impfpflicht einführen. Beschränkungen für Ungeimpfte sind unvermeidlich. Impfpflicht in bestimmten Berufen finde ich völlig in Ordnung. Veranstaltungsbesuche etc. nur mit Impfung - klar. Aber Impfpflicht?
Wie soll das überhaupt aussehen? Niemand will Leute mit körperlicher Gewalt impfen, das wäre verrückt. Also bliebe: Bußgeld für alle Ungeimpfen. Und wenn sie sich dann noch immer nicht impfen lassen? Nochmal Bußgeld? Jeden Tag? Jede Woche?
Was ist, wenn 10% der Bevölkerung das riskieren? Wollen wir dann 10% in den Privatkonkurs treiben? Oder einsperren? Wie entwickelt sich dann wohl die Stimmung im Rest der Gesellschaft?
Wir werden noch viel darüber reden, welche Konsequenzen für Ungeimpfte ok sind. Irgendwann werden die Krankenversicherungen überlegen, ob es fair ist, zigtausende Euro pro Intensivpatient der Allgemeinheit aufzubürden. Es werden hässliche Diskussionen werden.
Aber ich glaube, eine allgemeine Impfpflicht ist nur ohne gesellschaftlichen Schaden möglich, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz über einer bestimmten Schwelle liegt. Und ich glaube nicht, dass wir diese Schwelle erreicht haben.
Was ist die Lösung? Ich habe auch keine. Weiter aufklären, weiter diskutieren, und weiter in einer furchtbaren Pandemie leben, mit vielen Toten und schwer erkrankten. Und darauf hoffen, dass die Impfung mit Booster-Shot noch einmal besser wirkt. Es werden noch harte Zeiten.
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
Gestern verbreitete @SHomburg einen Blogartikel von 2 Statistikern, die beschrieben, dass die Wirksamkeit der Impfung bloß ein statistisches Artefakt sein kann. Nein, ist sie nicht. Aber sehen wir uns das Argument mal an. (Thread)
Zunächst: Ich verlinke hier zum Blogartikel, sage aber dazu: Ich finde ihn extrem schlecht. Alleine schon die Art der Datenaufbereitung ist haarsträubend. Bei einem Modellierungs-Seminar an der Uni würde das für Entsetzen sorgen. probabilityandlaw.blogspot.com/2021/11/is-vac…
Warum nur so wenige Zeilen? Warum diese Rundungsfehler, die dazu führen, dass die Linie verwirrend zittrig aussieht? Aber egal. Auch wenn es schlecht aufbereitet ist, kann die Aussage ja stimmen- hässliche Daten sind kein Argument. Man kann es ja selber hübscher darstellen.
Klar: Eine hohe Durchimpfungsquote bremst die COVID-Ausbreitung. Trotzdem verbreitet sich jetzt wieder eine Studie, die angeblich das Gegenteil behaupten soll. Tut sie aber nicht. Ein näherer Blick ist interessant, sehen wir uns das an. (Thread)
"Studie" ist eigentlich ein zu großes Wort. Es handelt sich um eine "Correspondence", also einen kurzen Aufsatz in einem Fachjournal, aber ok. Nachzulesen hier: link.springer.com/article/10.100…
Die Autoren suchten nach einem Zusammenhang zwischen regionaler Durchimpfungsrate und COVID-Inzidenz. Gefunden haben sie nicht wirklich was. Beweist das, dass es keinen Zusammenhang gibt? Nein. Wenn ich meine Brille nicht finde, beweist das auch nicht, dass ich keine Brille habe.
In rechtsradikalen Kreisen geht offenbar gerade ein Video aus einem Krankenhaus in Antwerpen viral: Angeblich sind dort alle COVID-Patienten in der Intensivstation geimpft. Skandal? Überraschung? Nein, das ist völlig aussagelos. (Thread)
Zunächst: Nie hat jemand behauptet oder erwartet, dass die Impfung zu 100% schützt. Das ist unmöglich. Sie kann nur die Wahrscheinlichkeit senken, dass man krank wird, schwer krank wird oder stirbt. Und das tut die Impfung auch - sogar sehr gut.
Die Impfung wirkt deutlich besser als man ursprünglich für eine Zulassung verlangt hatte. Diese Zahlen sind gut belegt und stehen außer Streit. Was bedeutet das nun, in einer Bevölkerung mit hoher Durchimpfungsrate?
Neben Wissenschaft muss man doch auch die Intuition gelten lassen, sagt @felber_c. Das klingt freundlich und kuschelweich, ist aber Extremismus, der unserer Demokratie gefährdet. Ich formuliere das bewusst so scharf. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit ist brandgefährlich. (Thread)
Demokratie bedeutet, dass wir gemeinsam wichtige Fragen diskutieren und zu einem Mehrheitsergebnis kommen. Das ist aber nur möglich, wenn wir darüber einig sind, welche Argumente wir als gültig akzeptieren.
Natürlich ist nicht jede Aussage ein gültiges Argument. Man muss logische Gründe liefern. Wenn jemand eine politische Forderung erhebt, weil sie ihm im Traum geoffenbart wurde, weil er sie mit Zauberrunen ermittelt hat oder weil er es aus dem Kaffeesud gelesen hat, gilt das nicht
Können wir bitte aufhören, Impfgegner wie kleine Kinder zu behandeln, die man nicht mit klaren Worten verschrecken darf? Wenn ich falsch liege, will ich auch, dass man mir das klar sagt und den Grund erklärt. Nicht dass jemand meinen Irrtum sanft und wertschätzend gelten lässt.🧵
"Schuldzuweisungen sind falsch! So spaltet man die Gesellschaft!"
Klar, wertschätzende Diskussion ist wichtig. Aber einem Raser auf der Autobahn sage ich auch nicht: "Ich respektiere dein Bedürfnis nach Geschwindigkeitsrausch! Aber vielleicht willst du's mal langsamer probieren?"
Ich stimme natürlich zu: Man überzeugt niemanden, wenn man ihn hart attackiert. Wenn ich mit "du Idiot!" starte, wird keine Diskussion möglich. Aber wenn klare Fakten auf dem Tisch liegen, muss man sie auch klar sagen. Man kann sich die Wirklichkeit nicht zurechtstreicheln.
Dieses Argument ist einfach nicht totzukriegen: "Wenn wir das Klima retten wollen, dürfen einfach nicht so viele Menschen auf dem Planeten leben! Man muss also erstmals etwas gegen das Bevölkerungswachstum in Afrika tun!" Das ist in so vielfacher Hinsicht falsch! (Thread)
Hier klingt natürlich ein ziemlich offensichtlicher Rassismus durch: WIR gegen DIE! WIR sind nicht Schuld, sollen DIE sich doch ändern! Und DIE sollen nicht mehr werden als WIR, sonst verlieren WIR vielleicht an Macht!
Abgesehen davon passt die These nicht zu den Fakten:
Übermäßiges Bevölkerungswachstum war Ende des 20. Jahrhunderts tatsächlich ein Grund zur Sorge. Aber seither hat sich viel getan: Das Wachstum hat sich stabilisiert, es wird bis zum Ende des Jahrhunderts zum Stillstand kommen.