Gestern verbreitete @SHomburg einen Blogartikel von 2 Statistikern, die beschrieben, dass die Wirksamkeit der Impfung bloß ein statistisches Artefakt sein kann. Nein, ist sie nicht. Aber sehen wir uns das Argument mal an. (Thread)
Zunächst: Ich verlinke hier zum Blogartikel, sage aber dazu: Ich finde ihn extrem schlecht. Alleine schon die Art der Datenaufbereitung ist haarsträubend. Bei einem Modellierungs-Seminar an der Uni würde das für Entsetzen sorgen. probabilityandlaw.blogspot.com/2021/11/is-vac…
Warum nur so wenige Zeilen? Warum diese Rundungsfehler, die dazu führen, dass die Linie verwirrend zittrig aussieht? Aber egal. Auch wenn es schlecht aufbereitet ist, kann die Aussage ja stimmen- hässliche Daten sind kein Argument. Man kann es ja selber hübscher darstellen.
Modelliert wird hier eine Bevölkerung die 1) langsam abnimmt, durch eine gewisse Sterblichkeitsrate, und 2) durchgeimpft wird. Rot: Zahl der Geimpften. Blau: Gesamtzahl, die kontinuierlich abnimmt. (Grafiken von mir)
In Wirklichkeit nimmt die Bevölkerung nicht ab, weil ja neue Personen dazukommen, aber auch das kann uns hier egal sein. Rot: die Zahl der Ungeimpften und blau die Zahl der Geimpften. In der Mitte gibt es einen Punkt bei 50% Durchimpfungsrate, bei dem sich die Kurven schneiden.
Weil ja angenommen wird, dass die Impfung nicht wirkt, ist die Sterblichkeit in beiden Gruppen genau gleich groß. So weit so gut. Nun die entscheidende Hypothese: Was ist, wenn die Sterbefälle nicht sofort gemeldet werden, sondern mit Verzögerung - und zwar in beiden Gruppen?
Das kann natürlich passieren. Akten können liegenbleiben, Datenbanken können verspätet aktualisiert werden. Aber hat das einen Einfluss auf die Sterblichkeitsraten? Ja, wenn man sich beim Auswerten ziemlich dumm anstellt:
Angenommen, die heute gemeldeten Todesfallzahlen sind in Wirklichkeit nicht die Todesfallzahlen von heute (oder gestern), sondern durch Meldungsverzug jene von vor 1 oder 2 Wochen.
Dann muss ich die, um eine Sterblichkeitsrate zu berechnen, natürlich mit der Zahl von Geimpften bzw. Ungeimpften in Relation setzen, die es damals vor 1 oder 2 Wochen gab.
Wenn ich die Sterblichkeitsrate berechne, indem ich die Sterbezahlen von früher mit den Impfzahlen von heute in Relation setze, bekomme ich natürlich etwas Falsches heraus. Das hat auch nie jemand bezweifelt.
Je nach gewählten Parametern kann das z.B. so aussehen: Rot die Sterblichkeitsrate bei Ungeimpften, blau bei Geimpften.
Was passiert hier? Die Zahl der Ungeimpften sinkt laufend. Das heißt, wenn ich alte Todesfallzahlen durch die aktuelle Zahl der Ungeimpften dividiere, dann dividiere ich durch eine zu kleine Zahl, und die Sterblichkeitsrate sieht höher aus als sie ist (roter Hügel in der Mitte).
Und daraus leiten jetzt die beiden Statistiker und Homburg den Verdacht ab: Vielleicht ist genau das ja passiert! Vielleicht glauben nur alle, dass die Impfung wirkt, weil genau dieser Fehler gemacht wurde!
Das ist schon stark. Man zeigt nicht einen Fehler auf, sondern man zeigt nur auf, dass ein Fehler prinzipiell möglich ist - und verwendet das dann als Argument gegen die Impfung. Geht's noch? Nach der Logik ist jede Pistole, mit der prinzipiell getötet werden kann, eine Tatwaffe.
Wichtig auch: Der Effekt ist genau dann hoch, wenn sich die Zahl der Ungeimpften sehr rasch ändert - also am Maximum der Impfdynamik. Wenn die Zahl über Wochen relativ stabil bleibt, ist es auch egal, wenn Todesfälle Wochen zu spät gemeldet werden.
Läge die Impfeffektivität tatsächlich an diesem Fehler, hätte man den Effekt also im Juli sehen müssen, als sehr viele Leute geimpft wurden - nicht in den letzten Wochen, in denen der Anteil der Geimpften relativ stabil blieb.
Außerdem: SOLCHE KURVEN SIND NICHT DER GRUND, WARUM WIR WISSEN, DASS DIE IMPFUNG WIRKT! Dazu gibt es viel bessere Daten - etwa die klinischen Studien, die Beobachtungen auf den Intensivstationen und vieles mehr.
Hier wird wieder die alte Taktik der Wissenschaftsleugner verwendet: Man sucht sich einen Punkt heraus (hier noch dazu: bloß ein konstruierter, möglicher Punkt) und ignoriert alles andere, was man über die Sache bereits weiß.
Dass Esoteriker und Pseudowissenschaftler so etwas tun, ist normal. Dass Leute, die an Universitäten arbeiten, hier nicht mehr Sorgfalt an den Tag legen, finde ich allerdings wirklich sehr traurig.
Zusammenfassend: Ja, den beschriebenen Artefakt kann es geben. Das ist ein möglicher Fehler. Aber es ist unsinnig darüber zu diskutieren - außer man entdeckt, dass irgendjemand diesen Fehler tatsächlich gemacht hat. Dafür bleiben diese Leute aber jeden Hinweis schuldig.
Drum: Vergesst die Sache. Hört den Experten zu. Den Leuten aus Epidemiologie, Virologie und den Intensivstationen. Da gibt es genug Information - man muss keine seltsam zurechtgebogenen Statistiken analysieren. Ich hab's nur gemacht, damit ihr nicht müsst. Lasst euch boostern!

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