"In Zukunft müssen wir viel härter mit antiwissenschaftlichen, esoterischen oder alternativmedizinischen Aussagen umgehen!"
Das höre ich jetzt oft, und es ist nicht falsch. Wir müssen hier aber vorsichtig sein, glaube ich. Ein Thread über die "Spaltung der Gesellschaft".
Was wir jetzt sehen: Wissenschaftsfeindlichkeit ist bedrohlich. Es geht nicht bloß darum, dass ein paar Leute sich selbst schaden, indem sie Wundermittelchen einnehmen oder einem Wünschelrutengeher Geld zahlen. Es geht um das Überleben einer auf Verstand basierenden Gesellschaft.
Dinge wie Homöopathie, Energethik und Engelsglaube sind natürlich verhältnismäßig harmlos. Aber sie untergraben den Konsens, dass wir gesellschaftliche Entscheidungen auf Fakten und Wissenschaft aufbauen müssen, und das ist gefährlich.
Davon rede ich seit vielen Jahren, wie viele andere Leute aus der Wissenschaftsszene. Wir aus Vereinen wie der GWUP oder der Gesellschaft für kritisches Denken Wien haben davor schon lange gewarnt - obwohl kaum jemand von uns dachte, dass dieses Problem so rasch eskalieren kann.
Verschwörungstheorien (von Chemtrails bis Bill Gates), Wissenschaftsfeindlichkeit (von Angst vor "Chemie" bis Panik vor "genverseuchten Pflanzen"), Wunderglaube (von Astrologie bis zum Zauberheiler) müssen wir als gefährlichen ersten Schritt in ein faktenfremdes Weltbild sehen.
Wissenschaftsfeindlichkeit ist bedrohlich. Trotzdem wäre es aber völlig falsch, alle Leute, die an etwas Widerlegtes glauben, als Teil des Problems zu sehen. Nein, wir alle glauben an falsche Dinge. Entscheidend ist, ob man versucht, sich daraus zu befreien oder nicht.
Es gibt einen riesengroßen Graubereich zwischen dem ungerechtfertigten Glauben an etwas, was eigentlich nicht stimmt, und dem aggressiven, trotzigen Ablehnen von Fakten, obwohl man es eigentlich längst besser wissen müsste.
Irgendwo in diesem Graubereich müssen wir eine rote Linie ziehen. Auf der einen Seite sind Leute, mit denen man diskutieren kann, die man überzeugen kann, die man auf jeden fall ernst nehmen muss. Auf der anderen sind Leute, die aggressiv wissenschaftsfeindlich sind.
Das Ziehen einer roten Linie zwischen "diskussionsbereit" und "nicht diskussionsbereit" kann man jetzt als "Spaltung der Gesellschaft" schlechtreden- das ist aber bitte die Schuld derer, die aufgehört haben, über Fakten zu diskutieren, nicht die Schuld derer, die darauf hinweisen
Ich glaube sogar, dass rote Linien sehr wichtig sind: Es ist ok, Regierungsmaßnahmen überzogen zu finden. Es ist ok, sich für Offenhalten von Schulen einzusetzen. Es ist NICHT ok zu behaupten, die Regierung will uns mit der Impfung töten, und alle Berichte aus ICUs seien Lüge.
Aber diese rote Linie muss man weit draußen ziehen - nicht im Graubereich zwischen akzeptabel und wirrköpfig, sondern erst dort, wo der wirklich extremistische Teil des Spektrums beginnt. Wir müssen Zweifler und Menschen mit berechtigten Bedenken von Coronaleugnern trennen.
Wir dürfen nicht verfallen in ein "wer nicht für mich ist, ist gegen mich!". Wir dürfen nicht so tun, als wäre Glaube an ein unwissenschaftliches Wundermittelchen oder Besuch einer Esoterik-Messe genauso schlimm wie demokratiegefährdende Extremisten-Demos von Ivermectin-Fans.
Ja, jede Form von Wissenschaftsfeindlichkeit ist ein Problem, das man beobachten muss. Mehr Wachsamkeit in diesem Punkt wird nötig sein - aber das darf NICHT bedeuten, die rote Linie zwischen "akzeptabel" und "inakzeptabel" nach immer strengeren Kriterien zu ziehen.
Man gewinnt keine Mehrheiten, indem man den Kreis des Akzeptablen immer enger um sich selbst zieht und sich dann wundert, dass die Mehrheit plötzlich irgendwie außerhalb steht.
Die große Mehrheit ist wissenschaftlichen Fakten zugänglich. Menschen wegzustoßen, weil sie vielleicht irgendwo an etwas Falsches glauben, wäre dumm. Extremisten hingegen, die sich vom faktenbasierten Diskurs selbst abkoppeln, dürfen sich nicht wundern, hart kritisiert zu werden.

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Gestern verbreitete @SHomburg einen Blogartikel von 2 Statistikern, die beschrieben, dass die Wirksamkeit der Impfung bloß ein statistisches Artefakt sein kann. Nein, ist sie nicht. Aber sehen wir uns das Argument mal an. (Thread)
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Können wir bitte aufhören, Impfgegner wie kleine Kinder zu behandeln, die man nicht mit klaren Worten verschrecken darf? Wenn ich falsch liege, will ich auch, dass man mir das klar sagt und den Grund erklärt. Nicht dass jemand meinen Irrtum sanft und wertschätzend gelten lässt.🧵
"Schuldzuweisungen sind falsch! So spaltet man die Gesellschaft!"
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