1/
Es kam die Frage, wie man die doch steile "These" belegen könne, dass die Politik im Sommer / Anfang Herbst die Inzidenz-Regeln absichtlich so änderte, dass diese sie in fast keiner Situation zur Handlung zwang und sie die vierte Welle weitgehend durchlaufen lassen kann.
2/
Denke es macht Sinn, diese Frage nochmal systematisch zu untersuchen.

Ich werde hier die abgrundtiefe Immoralität des gesetzten Zieles (Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems) nicht behandeln, sondern diese fürs Ziel der Analyse als gegeben betrachten.
3/
Fakt 1: Die Politik hatte die Änderung offiziell damit begründet, dass die alten Inzidenz-Grenzwerte in einer Welt mit Impfung zu früh anschlagen.

Es wurde also offen gesagt, dass der Zeitpunkt, wo eine staatliche Reaktion erfolgen muss, nach hinten verschoben werden soll.
4/
Fakt 2: Diese Verschiebung hat nicht geklappt - also das Verschieben an sich schon, aber nicht in dem Sinne, dass das "Alarmsystem" ihr erklärtes Ziel, die Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssytems, erreicht hätte.
5/
Die Frage, der man dann gegenübersteht, ist, ob Unfähigkeit oder Planung (bzw. zumindest Inkaufnahme) hinter der Untauglichkeit der neuen Methode steckt.
6/
Einwandfrei könnte man einen Vorsatz natürlich nur belegen, wenn es Dokumente oder Tonaufnahmen zu entsprechender Kommunikation gäbe - das ist per heute nicht der Fall.

Es gibt aber einige, aus meiner Sicht aussagekräftige indirekte Belege.
7/
Punkt 1. Die Untauglichkeit der neuen Methode bedeutete das Fehlen eines Zwanges, zu handeln – sie war jedoch kein Verbot, zu handeln.

Die Politik hätte jederzeit eingreifen können, um die Überlastung der Krankenhäuser abzuwenden.

Hat sie aber nicht.
8/
Damit lässt es sich jedenfalls festhalten, dass die Politik den "Freiraum", der sich mit der verbockten Hospitalisierungsinzidenz ergab, jedenfalls *nutzte*.

Deren Untauglichkeit kann also rein logisch gesehen nicht entgegen ihrer Intentionen gewesen sein.
9/
Punkt 2. Der Ausgangspunkt der Politik war an sich nicht unrichtig: in einer Welt mit Impfung kann man mehr Infektionen dulden, um die Anzahl der Krankenhausbelegungen unter einer bestimmten Schwelle zu halten.
10/
Bloß: die logische Schlussfolgerung wäre einfach die Anhebung der Grenzwerte für die Ansteckungen gewesen.

Was anstatt dessen gemacht wurde, ist etwas grundlegend anderes: die Einführung eines völlig neuen Maßstabs.
11/
Und die Untauglichkeit dieses neuen Maßstabs war von Anfang an unübersehbar: die Zeitverzögerung zwischen Infektion und Hospitalisierung macht es schon rein intuitiv... zumindest schwierig.
12/
Zudem: die Impfung senkt den Quotienten Hospitalisiert/Infiziert. Das bedeutet aber, dass die Zahl der Hospitalisierten bei exponentiell wachsender Inzidenz auch mit Impfung (im wesentlichen) exponentiell steigt – nur eben nicht mit derselben Steilheit.
13/
Heißt, wenn man erst bremst, wenn die KH-Belegung am Anschlag ist, dann hat man in dem Moment bereits einen weiteren *exponentiellen* Anstieg der KH-Belegungen in den nächsten Wochen eingeloggt und somit eine Überlastung vorprogrammiert – die Ansteckungen sind ja bereits da.
14/
Punkt 3. Zu guter Letzt – die Hospitalisierungsinzidenz, so wie sie konzipiert wurdem, misst nicht einmal die Hospitalisierungen richtig.

Dazu lohnt es sich, sich dies hier anzuschauen (vom September 2021!):
15/
In kurz:
- Gerade die frischen Fälle werden nicht erfasst
- Fälle werden überhaupt nur erfasst, wenn ein positiver Test *aus den letzten 7 Tagen* vorliegt
- Grenzwerte seien tw. so gesetzt worden, dass der Indikator diese so gut wie nie erreichen könne
16/
- Fachleute könnten die Berechnungsmethode nicht nachvollziehen; es handele sich um eine „rein politische Entscheidung“
- Unzulänglichkeiten seien bereits im August 2021 aufgedeckt und bekanntgegeben worden; es sei keinerlei Nachjustierung erfolgt.
17/
Es tut mir leid: die Puzzleteilchen passen zu gut zusammen. Das kann man nicht mit fehlenden intellektuellen Kapazitäten bei der Politik erklären.
18/
Wenn das Konzept von Anfang an falsch ist; wenn es zudem bizarre Verrenkungen bei der Berechnungsmethode gibt; wenn bereits vor Start klar ist, dass die Methode nichts taugt, und es trotzdem durchgezogen wird - dann ist die politische Verantwortung außer jeder Frage.
Ende.

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More from @FillingTheCrack

4 Dec
1/5
Fällt dem Publikum auf, dass wir zum ersten Mal seit Ende der ersten Welle eine Situation haben, wo eine Partei für *härtere* Maßnahmen argumentiert?

Und es ist natürlich einer speziellen Konstellation geschuldet:
1/5
- Die Union stellt nicht mehr die Bundestagsmehrheit, regiert gefühlt nicht mehr, und

- die zwei am stärksten betroffenen Bundesländer sind unionsgeführt und mussten notgedrungen mit Maßnahmen vorpreschen.
3/5
So, und da Maßnahmen von der Politik als sehr unpopulär wahrgenommen werden, und ihr Albtraum nicht der ist, dass sich die Leichen auf der Straße stapeln, sondern dass sie Beschränkungen machen, die der Nachbarbonze nicht macht, ist es für die Union politisch rational,
Read 5 tweets
3 Dec
1/5
Der designierte Bundesjustizminister sagte: „wir müssen davon ausgehen, dass ein großer Teil der Maßnahmen grundgesetzwidrig ist“ - nur um nicht einen Monat später vom BVerfG krachend widerlegt zu werden.

2/5
Außerdem, mindestens so schön: das Bestehen oder Fehlen einer „Epidemiologischen Lage von nat. Tragweite“ müsse man von der Rechtsfolge her bestimmen; ob man die haben wolle oder nicht.

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen; es stellt die ganze Logik auf den Kopf.
3/5
Aus meiner Sicht ist das ein offenes Eingeständnis von Rechtsbruch oder zumindest von missbräuchlicher Gesetzgebungsarbeit.

Es ist, als würde ein Gericht sagen: ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, hängt davon ab, ob ich mit dem Strafmaß OK bin oder nicht. Absurd.
Read 5 tweets
9 Nov
1/
Es wäre schlimm genug, wenn die deutsche Politik die letzten Monate bloß tatenlos zugesehen hätte, wie die breit angekündigte vierte Welle auf uns zurollt.

In Wirklichkeit arbeitete sie sogar mit seltenem Engagement daran, dass diese Welle um ein Vielfaches größer wird.
2/
For the record:

i) Bereits im Sommer wurde bundesweit die Schließung der Impfzentren beschlossen. Diese fehlen uns aktuell arg beim boostern, und sehr bald bei der Impfung der Kinder. Dies war absehbar, hier nur ein Beispiel von vielen: zdf.de/nachrichten/po…
3/
ii) Abschaffung der inzidenzbasierten Handlungsvorgaben; Ersetzung mit der absichtlich dysfunktional gestalteten Hospitalisierungsinzidenz („gerade die aktuellen Fälle werden nicht erfasst"; "rein politisch getrieben“, so der Datenexperte der ARD)
Read 9 tweets
4 Nov
1/
Wenn ich es richtig verstehe, bedeutet das Auslaufenlassen des Gesetzes zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite, dass die Bundesregierung jegliche Entscheidungsgewalt über Schutzmaßnahmen wieder abgibt und diese somit demnächst wieder allein bei den Ländern ist.
2/
Es bedeutet also eine Rückkehr zum „race to the bottom“ der Bundesländer, und dem damit einhergehenden surrealen Chaos und Lähmung der zweiten und dritten Welle bis März 2021; nur unter noch schlechteren Vorzeichen.
3/
Warum? Zum einen verstummt in der Politik mit Merkels Abgang die neben Karl Lauterbach wichtigste (einzige?), maßgebende Stimme für den Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen in diesem Land.
Read 13 tweets
3 Nov
1/
Sehr aufschlussreiche Sendung mit #Lanz gerade, fast ausschließlich zu Covid.
Interessant vor allem auch deswegen, weil sie eine ungeheure Ratlosigkeit - grenzend an Kapitulation – auf Seiten der Politik (hier in der Person von Reiner Haseloff) bekundete.
2/
Es wird folgendes klar:

i) Die Politik hoffte, der Impfstoff würde ihr Covid mit einem Schwerstreich vom Halse schaffen. Das ging schief.
3/
ii) Dann hoffte die Politik, sie könnte das unliebsame Dilemma zwischen einer niedrigen Impfquote und einer Impflicht auflösen, in dem sie den Druck, wie so oft, einfach an die Privatwirtschaft auslagert. Das ging ebenfalls schief.
Read 15 tweets
1 Nov
1/
A prominent foreign policy expert of the German Greens (usually more firm on EU rule of law issues than CDU or SPD) urges lenience towards PiS.

What is interesting, is the explanation:
2/
i) He loves Poland
ii) kind of bad conscience because Germany has ignored valid Polish interest lately (e.g. North Stream II).

Now this is kind of puzzling.

i) If you love Poland, that should all the more be a motivation to protect its democratic polity & Poles‘ liberty.
3/
ii) Yes, Merkel‘s gov *has* acted pretty crudely towards Polish interests, but we all know this has exactly nothing to do with PiS‘ push to subdue the legislative branch of power in Poland.

„I‘m angry at Germany so I reject EU law“ makes no sense.

Why connect the two?
Read 9 tweets

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