Kalter, finsterer Dezembersonntagabend! Lasst uns ein spannendes Thema diskutieren: Was ist eigentlich #Kunst?
Im allgemeinsten Sinne handelt es sich bei Kunst um Strukturen, die Menschen in ihrer Umgebung erzeugen, welche den Zweck haben, in den Nervensystemen derer, die damit konfrontiert sind, starke Reaktionen auszulösen.
"Starke Reaktion" bedeutet: Zündung einer Kette von emotionalen und gedanklichen Reaktionen, einer Serie von Bildern und Vorstellungen im Geist. Je länger und komplexer diese Assoziationskette, je stärker die damit verbundenen Gefühle, desto gelungener finden wir ein Kunstwerk.
Nervensysteme werden einerseits durch rhythmische, wiederkehrende Signale, andererseits durch Unerwartetes, Neuartiges zu starker Aktivität angeregt. Kunstwerke sind daher, um eine Metapher Max Plancks für die Erbinformation zweckzuentfremden, ein aperiodischer Kristall...
...d.h. ein rhythmisches Signal, das Veränderungen und Variationen unterworfen ist.
Die ältesten Kunstwerke dürften daher Strich- und Punktornamente als Körperbemalung sowie rhythmische Musik gewesen sein.
Zu beachten ist, dass die Rhythmik sowohl zeitlich wie räumlich ausgeprägt sein kann: Zeitlich bei Musik und Literatur (die älteste Literaturform war der Gesang), räumlich bei Gemälden und Skulpturen. Theater, Film und Videospiel kombinieren beides.
Der menschliche Geist hat die faszinierende Fähigkeit zur Fiktionalisierung: d.h. er kann sich Vorgänge und Abläufe vorstellen, die nicht real sind, die er unter Umständen nie erlebt hat und nie erleben kann. Daher wird er besonders stark in Aktivität versetzt...
...wenn der "aperiodische Kristall" so strukturiert ist, dass durch ihn im Vorstellungsvermögen eine Geschichte entsteht.
Das Zünden von Assoziationsketten und Heraufrufen von Vorstellungen und Geschichten durch Artefakte wird von allen hominidischen Nervensystemen als angenehm empfunden: es stimuliert das Belohnungszentrum. Daher haben alle Völker auf der Erde in irgendeiner Form Kunst kreiert.
Im Laufe der Jahrtausende wurden unzählige Gestaltungsformen entwickelt.
Eine Besonderheit der europäischen Kunst ist hierbei die Entwicklung fotorealistischer Darstellung seit dem Spätmittelalter. Die literarische Form des Romans dagegen entstand in Japan (Stichwort Prinz Genji).
Daniel Knight: "Waiting for the Ferry" (1885)
Doch Louis Daguerre fand einen Weg, die Erstellung realistischer Abbildungen zu automatisieren.
Im 19. Jahrhundert fand daher ein doppelter Umbruch im Verständnis von Kunst statt: Zum einen sah man die Künstler nicht mehr, wie in den vorigen Jahrhunderten, als Handwerker, die eine bestimmte Fähigkeit perfektionieren, sondern als Genies, die eigene Gesetze erschaffen...
...und sich über die Denkweisen ihrer Mitmenschen gottgleich hinwegsetzen. Dieses Konzeption begann im Zuge der Goethezeit (mit Goethe als ursprünglichem Halbgott) und wurde programmatisch in der Romantik.
Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (1819/20)
Zum anderen erreichte die Kunst eine neue Vollzugsebene: Das bedeutet, dass sie anfing, zu untersuchen, wie sie selbst funktioniert. Eben weil durch die Fotografie die realistische Malerei zum Auslaufmodell wurde, wandten sie die Künstler der Frage zu: Was macht Kunst aus?
Zuerst untersuchte man im Impressionismus die Informationsflussrichtung von außen nach innen: Wie reagiert der Geist auf visuelle Eindrücke? Genügen eventuell schon ein paar Tupfen, um die Vorstellung eines Menschen, eines Baumes, eines Segelboots entstehen zu lassen?
Der Expressionismus im frühen 20. Jh. beschäftigte sich mit der entgegengesetzten Richtung: Wie kann ich geistigen und emotionalen Prozessen ein visuelles Analogon schaffen?
August Macke: "Russisches Ballett" (1912)
So wie Carroll, Joyce, Döblin, Broch und andere moderne Autoren in der Literatur, begann die moderne Kunst, das Bewusstsein visuell zu erforschen: Träume und Halluzinationen im Surrealismus; Intuition und absurde scheinende Gedanken im Dadaismus und Fluxus.
Natürlich sind solche modernen Kunstformen schwieriger zu erfassen als traditionelle: Weil die durch sie gezündeten Assoziationsketten auf einer höheren, abstrakten Ebene erfolgen. Wie Marcel Proust bemerkte, wird ein Bauer, der die Mona Lisa sieht, zufrieden brummeln...
..."Ja-ja, das ist alles völlig solide gemacht!" -- bei einem modernen Kunstwerk dagegen passiert es oft, das diejenigen, die sich nicht eingehender mit Kunst befassen, nur den Kopf schütteln: "Was soll das?"
In diesem Zusammenhang tritt häufig die Frage auf, auf welche Weise man Kunst entlohnen bzw. Künstler bezahlen solle. Manche Menschen empfinden es als "ungerecht", dass Steuergelder benutzt werden, um Kunstprojekte zu finanzieren, die die Mehrheit der Bürger uninteressant findet.
Ein Romantiker würde jetzt schreien: "Natürlich! Die Masse ist eben nicht fähig, das Schaffen eines Halbgottes zu begreifen. Wenn der Steuerzahler nicht blecht, hat der Künstler das Recht, eine Bank zu überfallen, weil er seine eigenen Gesetze macht."
Ein Sozialist dagegen: "Künstler haben das Recht auf öffentliche Förderung, müssen allerdings ihr Schaffen so ausrichten, dass es dem Interesse der Bevölkerung [d.h. der Arbeiterklasse] dient. Kunst ist wertvoll, wenn sie sozialistische Ideale ausdrückt."
Ein Libertärer würde erwidern: "Die Bevölkerung ist nicht dumm und kann selbst entscheiden, was künstlerischen Wert hat. Wenn ein Künstler kompetent ist, kann er seine Werke auf dem freien Markt verkaufen und braucht keine öffentliche Förderung."
Es handelt sich also um drei Auffassungen darüber, was den Wert von Kunst bzw. Kunst überhaupt ausmacht.
Sozialist (in platonischer Tradition): Sie muss einem philosophisch definierten Ideal dienen;
Libertärer: Die Mehrheit entscheidet, was Kunst ist;
Romantiker: Der Künstler selber entscheidet, was Kunst ist!
Endgültig lösbar ist dieser Streit nicht. Die Qualität mancher lukrativ vermarktbarer Werke lässt die Auffassung des Libertären zumindest hinterfragbar erscheinen; ebenso diejenige schmieriger Ostblock-Staatskunst die Auffassung des Sozialisten.
Die Auffassung des Romantikers dagegen hat ziemlich viel destruktives Potential, vor allem, wenn man bedenkt, dass gewisse erfolglose Maler sich stattdessen als Potentat versuchten.
Ich persönlich werde mit keiner der drei Auffassungen wirklich warm. Ich finde vielmehr, dass man das der modernen Kunst zugrundeliegende Konzept -- Kunst als Erforschung des Bewusstseins -- ernst nehmen und weiterentwickeln sollte.
Dies bedeutet Annäherung der Kunst an Philosophie und Naturwissenschaft. Insbesondere die modernen technischen Möglichkeiten -- mathematische Kunst, Computer- und Roboterkunst u.v.a. -- sollten voll ausgeschöpft werden. Douglas Hofstadter wies den richtigen Weg.
Man darf Kunst nicht mehr als "Höheres-Töchter-Studium" oder als Zeitvertreib für zarte Seelen ansehen, sondern muss ihre Nähe zu Technik und Wissenschaft betonen (in dieser Hinsicht hatten die italienischen Futuristen, auch wenn ihr Duce-Gesimpe sehr cringe war, einen Punkt).
Kunst sollte sich der Erforschung geistiger und logischer Strukturen -- d.h. der "Grundkörnung" unserer Realität -- zuwenden. Sie hat eine ähnliche Rolle wie Hochenergiephysik, Astrophysik oder Raumfahrt: dadurch dient sie allen Menschen und hat Anrecht auf öffentliche Förderung.
"Im Gegensatz zu dieser dornenbewehrten Vegetation, die es geraten sein ließ, nicht zu gewissen, von reifen Honigäpfeln gekrönten Höhen hinaufzuklettern, weste unten die Welt des Kambrischen: Korallenwälder, unendlich und immer wieder anders...
...mit ihrem Gewebe wie Fleisch, Spitze und Wolle, ihren flammenden, verwandelten, goldglänzenden Bäumen; alchimistische Bäume, wie aus einem Zauberbuch oder magischen Lehrwerk; Nesseln, deren Unterseite sich nicht berühren ließ, flammensprühender Efeu...
...verschlungen in Kontrapunkten und Rhythmen so zweideutig, dass jede Trennlinie zwischen dem Leblosen und dem Zuckenden, dem Pflanzlichen und dem Tierischen verwischt wurde.
In letzter Zeit entsteht vermehrt der Eindruck, "Wissenschaft" sei etwas, das von mehr oder minder klug aussehenden Menschen getan wird, die im TV erscheinen und Recht haben.
Das ist natürlich eine grob verzerrte Wahrnehmung. Überlegen wir uns deshalb von Grund auf, was Wissenschaft ist bzw. ausmacht.
Die Startfrage lautet: Wie nimmt ein Mensch die Welt wahr? Er empfindet ein "Ich": Das ist die Gesamtheit aller geistigen und emotionalen Prozesse, überhaupt alles, was wir denken, bemerken, empfinden.
Es ist interessant, dass die Frage der Endlagerung radioaktiver Stoffe als Thema und Motiv in literarischem Zusammenhang aufgegriffen wird.
Die Notwendigkeit, menschliches Wirken über mehrere Generationen (also über den Horizont des Individuums hinaus)...
...oder sogar über geologische Zeitdauern (d.h. über den Zeithorizont der gesamten menschlichen Kultur hinaus) zu betrachten, erzeugt ein philosophisches Spannungsfeld, da dadurch eben das "Menschliche" mit dem "Nichtmenschlichen" (Kosmos, Erdgeschichte) verknüpft wird.
Dies hat die Definition des "Anthropozäns" motiviert. Nicht nur künstliche Radionuklide -- vieles, was die Menschheit seit der Sesshaftwerdung im Neolithikum hergestellt hat, wird über Zeitspannen existieren und sich auswirken, die den historischen Zeithorizont übertreffen.
--> und zwar ausschließlich mithilfe Erneuerbarer minus Kernenergie.
Ist das überhaupt plausibel? Lasst uns rechnen.
Deutschland verbraucht jährlich Strom entsprechend einer Durchschnittleistung von ca. 60 GW.
(Ich rechne hier alles als Jahresdurchschnittsleistung, also "Gesamtmenge Energie / 31.5 Mio S".)
...was, bei einem Heizwert von 10 kWh pro Liter und einer Dichte von 0.8 kg/l, einem auf die Masse bezogenen Heizwert von 45 MJ/kg und somit einer "Ölbrennleistung" Deutschlands von ca. 140 GW entspricht.
Idee:
Die wesentlichste Eigenschaft und Stärke der Affenart Mensch ist die Fähigkeit zum Verständnis des Konzepts "Zukunft". Dies ist der kognitive Faktor, der dazu führt, dass die eine Art im Urwald Termiten angelt, die andere, nahverwandte, ins All fliegt.
Dadurch, dass Homo Sapiens sich eine abstrakte, hypothetische Zukunft vorstellen kann, vermag er, Pläne für diese zu machen und zum Erreichen dieser Pläne kurzfristig Erregung des Schmerzzentrums in Kauf nehmen.
Wenn ein Tier einer anderen Art die Möglichkeit zur Wahl verschiedener Handlungsweisen hat, wird es diejenige wählen, die das Belohnungszentrum am stärksten, das Schmerzzentrum am schwächsten erregt.
Interessant ist BTW: Den KP erkennt jeder Leser sofort als Märchen (oder vielleicht eher als Folge von Bildern und Visionen) -- Star Wars oder (in noch etwas höherem Maße) Star Trek dagegen werden als "irgendwie realitätsnäher" empfunden...
...obwohl sie das keinesfalls sind. (E.g. scheint es in diesen Universen auch eine Atmosphäre zwischen den Himmelskörpern zu geben, die Schall leitet, Raumschiffe bewegen sich wie Ozeanschiffe oder Flugzeuge, in SW existiert eine Art Magie u.v.m.)
Dennoch werden sie als "Science Fiction" (d.h. "irgendwie theoretisch möglich") und nicht als Märchen wahrgenommen: weil die Geschichten sich Bildern, Begriffen und Erklärungen bedienen, die ein wissenschaftliches Flair haben.