Fast alle großen Debatten unserer Zeit - über Corona, Impfstoffe, Klima, Gender, angeblich manipulierte Wahlen und Weltverschwörungen - kreisen um Wissen und Logik. Zum Jahreswechsel ein paar einfach-naive Gedanken dazu, wie die Religion unsere Haltung zu Wissen und Logik prägt.
Religiöse Texte können wir zur
Denkübung nutzen, aber auch um uns (schon als Kind) das Denken abzugewöhnen und zu verbieten, die Hinnahme unbewiesener und unsinniger Behauptungen zu normalisieren. - Als ein willkürliches (nachweihnachtliches) Beispiel nehme ich Jesus als Erlöser.
Einige einfache Fragen:

1) Ist es moralisch zu rechtfertigen (und damit im Rahmen der Religion logisch), dass Gott ca. 2 Mio Jahre - oder nach biblischer Zeitrechnung ein paar Tausend Jahre - wartet, bis er den Menschen den Erlöser schickt?
2) Ist es moralisch zu rechtfertigen, dass Gott den Erlöser ausschließlich in eine Region der Welt schickt, den Rest der Welt unerlöst lässt?
3) Ist jemand ein „Erlöser“, der nur eine Handvoll Menschen/Zeitgenossen von ihrem Leid befreit, vor Hunger bewahrt oder vom Tod auferstehen lässt, die restlichen Milliarden (bis heute) ihrem Leid überlässt, ihnen ausschließlich Dinge im Jenseits verspricht?
4) Warum spricht der Erlöser sich nicht gegen die Unterjochung der Frauen, das Halten von Sklaven, das Schlagen der Kinder, die Anfeindung der Homosexuellen usw. aus, sondern hält sich fast immer innerhalb der historischen und lokal-kulturell determinierten Moral?
5) Warum korrigiert der Erlöser nicht die alttestamentarischen Texte, in denen Gott Völkermord begeht oder Menschen zu Völkermord, Sklavenhaltung und Massenvergewaltigungen anstiftet?
6) Ist es logisch, dass der Erlöser einen Feigenbaum, der gemäß der Jahreszeit noch keine Früchte trägt, verflucht und verdorren lässt?
7) Spricht der Erlöser die Wahrheit, wenn er sagt, dass jedes Gebet in Erfüllung gehen wird, wenn der Betende an die Erfüllung glaubt?
8) Spricht der Erlöser die Wahrheit, wenn er sagt, dass der Tag des Gerichts zu Lebzeiten seiner Jünger kommen wird?
9) Ist es angemessen, dass eine Religion, der es vorgeblich um die Menschen geht, ein göttliches Leid - Jesus am Kreuz - zu ihrem Symbol und erzählerischen Zentrum der Aufmerksamkeit macht?
10) Ist es logisch, dass ein allmächtiger Gott einen Erlöser schicken muss, um zu wirken?
11) Ist eine logische Geschichte, dass Gott den Menschen die Erbsünde unter der Voraussetzung vergibt, dass sie seinen Sohn zutodefoltern?
12) Ist es logisch, dass Gott seinen Sohn (im irdischen Sinn) opfern muss, um den Menschen seine Liebe zu zeigen und ihnen ewiges Leben zu schenken?
13) Ist es logisch, dass ein liebender Gott ein Menschenopfer für seine Liebe verlangt (damit eine Transaktionsmoral vertritt)?
14) Ist es logisch, dass der Erlöser, der die absolute Gottesgewissheit hat, glaubt, er sei von Gott verlassen?
15) Ist es logisch, dass der Erlöser nicht weiß, dass sein Tod Teil eines göttlichen Plans ist (und trotz des Nichtwissens darauf verzichtet, sich durch ein Wunder vom Kreuz zu befreien)?
16) Ist es logisch und moralisch zu rechtfertigen, dass alle Generationen der Menschheit durch die Grenzüberschreitung eines Einzelnen (Adam) ins Verderben gestürzt werden, bis wieder ein Einzelner (der Erlöser) den Fluch der ”Erbsünde” beendet?
17) Ist es moralisch zu rechtfertigen (und einem Erlöser gemäß), dass er alle Menschen, die ihm nicht die Tür geöffnet haben, mit nicht-endender Folter strafen will?
18) Ist es richtig, Kindern Geschichten als Wahrheiten beizubringen, die eine viel einfachere, widerspruchsfreie und unserem Wissen gemäße Erklärung in der Umdeutung realer Ereignisse (Auftreten eines Predigers, sein Tod am Kreuz) bzw. im kollektiven Erfinden eines Mythos finden?
19) Müsste ein Gott (eine moralische Religion) nicht das mündige Denken der Menschen fördern, anstatt vernünftige und begründete Zweifel als schlimmste Sünde zu bestrafen, blinden Glauben gegen jede Evidenz und Logik mit dem höchsten Gut, dem ewigen Leben bei Gott, zu belohnen?
20) Würde ein wahrhaftiger Erlöser die Menschheit nicht zum Licht der Erkenntnis führen, anstatt weiter hinein ins Dunkel des Wunsch- und Angstdenkens, des systematischen Ignorierens von Widersprüchen, von Wissen und Erfahrung?
21) Ist es zu rechtfertigen, alle diese Fragen sich und anderen nicht zu stellen, statt dessen zu glauben und den Glauben zu lehren?
Anstelle eines kritischen Denkens übt jede Religion also ein:

Das Fürwahrhalten von Behauptungen, für die es keine Belege gibt.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen, die unserem geprüften Wissen und all unserer Erfahrung widersprechen.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen, die widersinnig sind.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen aus Quellen, die sich vielfach durch Fehler und Widersprüche disqualifizieren.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen, die den Behauptungen Tausender anderer Religionen widersprechen (”Zum Glück hat man mir die einzige richtige Religion beigebracht, haben alle anderen auf der Welt die falschen Religionen”).
Das Fürwahr- und Fürrichtighalten von Behauptungen, die unseren moralischen Vorstellungen widersprechen (z.B. dass Menschen in der Hölle ewig gefoltert werden sollen, weil sie beleglose, widersinnige Behauptungen nicht glauben konnten).
Das Fürwahrhalten von Behauptungen nur deshalb, weil Millionen anderer Menschen, inklusive unserer Eltern und Großeltern, unserer Landsleute und Freunde, sie fürwahrhalten.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen, deren Wahrheit allein von menschlichen Kulturgütern „bezeugt“ wird (mythische Erzählungen, Gedichte, Lieder, Musik, Bilder, Skulpturen, Bauwerke, Symbole, Schmuckstücke, Feste, Rituale usw.).
Das Fürwahrhalten von Behauptungen, die von Autoritäten mit entsprechenden Titeln und Insignien (Kopfbedeckungen, Gewändern, Ringen, Amuletten, Stäbe, Zepter, Stirnbinden) geäußert werden.
Das Fürwahrhalten von Behauptungen aus einer Zeit, einer Kultur, die nicht vetrauenswürdig sind, weil es das wissenschaftliche Modell des Wissens nicht gab, die Menschen Spekulationen, Legenden, Fantasien, Träume, Hörensagen fürwahrhalten mussten.
Wenn wir darauf achten, wie oft wir selbst in Gesprächen Behauptungen wiederholen, die unsere Grundeinstellungen bestätigen und die wir ungeprüft von Freunden, Autoritäten übernommen haben, merken wir, dass wir alle, ob links oder rechts, atheistisch oder religiös, Gläubige sind.
Die Aufgaben unserer Zeit werden wir nur bewältigen, wenn wir lernen, Wissen von Unwissen, Logisches von Unlogischem zu unterscheiden. Wenn wir viel öfter sagen: „Ich weiß es nicht“, anstatt uns mit falschen Gewissheiten zornig zu bekriegen. Das wünsche ich uns zum Jahreswechsel.

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29 Dec
Unterscheiden sich die Konflikte um Gendern, Gender Pronomen, rassistische ”Microaggressions” oder die Frage, ob Transpersonen mit biologischen Frauen und Männern gleichzusetzen sind, von den Konflikten der frühen Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Homosexuellen-Bewegungen?
1) Bei vielen entsteht die Wahrnehmung, dass nicht nur illegitime Schlechterstellungen aufgehoben werden, sondern zugleich die Freiheiten anderer eingeschränkt werden sollen (bezüglich der Art, wie wir sprechen; von Frauen in Frauenhäusern, -gefängnissen, -wettkämpfen usw.).
2) Während linke/ liberale Intellektuelle und Bürger sich damals einig waren, dass die Lage der Arbeiter, Frauen, Nichtweißen und Homosexuellen jeder Berechtigung entbehrt und auf eine bekannte Art zu lösen ist, sind Problem und Lösung jetzt uneindeutig und kontrovers.
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28 Dec
Hypothese: Soziale Bewegungen beginnen oft rational - Anprangern 1) einer Kluft zwischen Werten und Handeln oder 2) einer fehlerhaften (z.B. sexistischen, rassistischen) Ideologie oder 3) einer unerkannten desaströsen Entwicklung - und entwickeln sich dann ins Irrationale hinein.
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20 Dec
Alle Debatten unserer Zeit – ob es um Corona und Impfen geht, um die Klimakrise und die Biodiversitätskrise, um Einwanderung, um politische Korrektheit, um Trans und Terfs – sind davon geprägt (ja kommen erst dadurch zustande), dass wir das für uns schwierige Wissen ignorieren.
Für jeden Menschen gibt es Wissen, das man “das schwierige Wissen” nennen kann. Es ist Wissen, das man nicht zur Kenntnis nehmen will, das nicht anziehend, sondern abstoßend ist, nicht bestätigend, sondern verunsichernd. Es bedroht meine Integration in bestehende Gemeinschaften.
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17 Dec
#GrünerVerrat? Was tun angesichts der Aufgabe der Sektorenziele, der Nichtbesetzung des Verkehrsressorts, der fehlenden Erhöhung des CO₂-Preises? Wie oft, wenn Bewegungen auf Parteien setzen, entsteht eine Verratsdebatte, siehe z.B. die Artikel @bertpsch und @carla_reemtsma.
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zeit.de/2021/51/anton-…
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20 May
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1.
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