Hypothese: Soziale Bewegungen beginnen oft rational - Anprangern 1) einer Kluft zwischen Werten und Handeln oder 2) einer fehlerhaften (z.B. sexistischen, rassistischen) Ideologie oder 3) einer unerkannten desaströsen Entwicklung - und entwickeln sich dann ins Irrationale hinein.
Die Rationalität von Bewegungen wäre immer eine bewegungs-externe, herrührend von Menschen, die unabhängig denken, keine Aktivisten sind, sondern Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler: so bei der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, der Klimabewegung.
Der Hypothese gemäß sähe man im Verlauf einer Bewegung immer eine Entwicklung zu weniger Rationalität. Motto: „Bewegungen denken nicht.“ Sie sind an Selbsterhaltung, an Erfolg interessiert (um mit Nietzsche oder Foucault zu sprechen, an Macht), werden darum zunehmend ideologisch.
Das führte irgendwann dazu, dass viele der anfänglichen Rationalitätslieferanten auf Distanz zur Bewegung gehen, die „Hochzeit mit den Intellektuellen“ wieder geschieden wird, die Aktivisten allein zurückbleiben. Zwei Beispiele: die kommunistische Bewegung und die 68er Bewegung.
Bewegungen hätten dann ihre Hochphase, wenn sie die ideale Balance erreichen von Rationalität (die breite Legitimation nach außen verleiht) und Irrationalität (die die Bande im Innern der Bewegungen stärkt und „schlechte“ Anhänger durch ideologische Propaganda anzuziehen vermag).
Demnach wäre es womöglich rational, zum richtigen Zeitpunkt Projekte aus der Bewegung herauszubewegen, auszukoppeln (wie man Aktien auf dem Höchstand verkaufen will), um sie zu professionalisieren, bevor die Bewegung den Kontakt zur Anfangs-Rationalität vollständig verloren hat.
Ist diese Hypothese zutreffend? Ist diese Entwicklung zwingend? Gibt es Möglichkeiten/Beispiele einer (regelmäßigen) Re-Rationalisierung? Oder bewegen Bewegungen sich immer auf der schiefen Bahn, hin zur Irrationalität?

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29 Dec
Unterscheiden sich die Konflikte um Gendern, Gender Pronomen, rassistische ”Microaggressions” oder die Frage, ob Transpersonen mit biologischen Frauen und Männern gleichzusetzen sind, von den Konflikten der frühen Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Homosexuellen-Bewegungen?
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28 Dec
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20 Dec
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17 Dec
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