Was ist moralisches Handeln? Das Gute zu tun, und das Böse zu bekämpfen? Fast alle unsere moralischen Erzählungen von Heiligen Büchern über Sagen und Märchen bis hin zu Netflix-Serien folgen diesem Muster. Die Linke. Die Rechte. Jede Terrororganisation, jeder Verschwörungsglaube.
Führt Empathie zum moralisch richtigen Handeln? Nicht unbedingt. Oft ist das Gegenteil der Fall: Mit Opfern mitzufühlen, führt dann zum Wunsch, die Täter mit Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Muslime, die mit muslimischen Opfern mitfühlen, greifen ”Ungläubige” an. Israelis …
die mit jüdisch-israelischen Opfern mitfühlen, greifen Pälestinenser an. Deutsche, die mit den Opfern des Judenmords und der Kolonisierung und Ausbeutung des Globalen Südens mitfühlten, gründeten die RAF und ermordeten die, die sie für schuldig hielten. Ich las in der Zeitung …
dass Nazis jemanden zutodegeprügelt hatten, ein Haus, in dem Kinder schliefen, in Brand gesteckt hatten, eine Schwangere in den Bauch getreten hatten, und diese Geschichten, die Empathie mit den Opfern, befeuerte die - oft grenzenlose - Gewalt, die wir als Antifa ausübten.
Auch die Nazis hatten ihre Opfer-Geschichten, von Morden und Vergewaltigungen, begangen durch Einwanderer, die ihre Gewalt anfachte. Ich will nichts gleichsetzen; nur sagen, dass Empathie und Identifikation mit Opfern auch hinter vielen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen.
Ich glaube, dass jede Moral, die zur Identität wird, der Irrationalität die Pforten öffnet. Sobald ich zu einer Seite gehöre, wird meine Empathie nur noch den Eigenen gelten, wird der ”myside bias” mein Denken korrumpieren, mich gegen Kritik und Selbstreflexion immunisieren.
Man müsste also voneinander trennen, was gewöhnlich zusammengehört, in unseren Mythen und Geschichten ineinsfällt: das Erkennen von richtig und falsch, Recht und Unrecht vom Parteiergreifen, von der Wahl einer Zugehörigkeit, der Bildung einer Identität. Was leitet sich daraus ab?
Lasst Euch impfen oder nicht impfen, aber macht es um Gottes Willen nicht zu eurer Identität. Seid links, aber keine Linken. Seid liberal, aber keine Liberalen. Seid konservativ, aber keine Konservativen. Seid aktiv, aber keine Aktivisten. Macht aus eurer Moral keine Identität.
Eine Moral, die nicht zur Unmoral verkommt, zur Idealisierung des Eigenen und Dämonisierung des Anderen, zu Gewalt, muss die Position des Dritten einnehmen können. Nicht Israel ist das Gute, nicht Palästina, das Gute gehört zu keiner Seite, sondern ist, wenn es ist, ein Drittes.
Das läuft fast allen unseren Geschichten zuwider und widerspricht allen Bewegungen, die meinen, sie brächten Moral und Identität zur Deckung. Damit sind die Bewegungen nicht schlecht; sie mögen sinnvoll und notwendig sein. Aber das Gute sind sie nicht. Es ist ortlos, parteilos.
Das Gute wie die Öffnung für das „schwierige Wissen“, das das Gute ermöglicht, lassen sich nur aus der Position des Dritten in den Blick nehmen. Sie verlangen, dass wir die Identität und das Mitgefühl, die Empathie (die sich auf eine Seite beschränken) für einen Moment aussetzen.
Verschwörungsmythen entstehen in einem narrativen Vakuum. Unsere Erfahrungen verlangen nach einer Erzählung. Dabei gilt: Wenn du eine Geschichte nicht richtig erzählen kannst, wird jemand kommen, der sie falsch erzählt.
Die Lücke wird gefüllt.
In den vergangenen 20 Jahren gab es viele politische Probleme, die buchstäblich geschichts-los geblieben sind, die nicht Teil des Narrativs einer großen politischen Kraft wurden und damit frei vagabundierendes und verfügbares Material für Verschwörungserzählungen abgaben.
1) Milliardäre. Der durch nichts legitimierte, demokratisch nicht steuerbare politische Einfluss von Milliardären wie den Koch-Brüdern, Zuckerberg, Soros, Gates usw. Die Linke müsste das Problem viel stärker aufgreifen, erst recht da, wo das Geld plötzlich ”auf ihrer Seite” ist.
Lesenswerter Text von Steven Pinker: Wege, in diesem Jahr rationaler zu werden.
Whenever we engage in an intellectual discussion, our goal ought to be to converge on the truth. But humans are primates - and often the goal is to become the alpha debater.
It can be done non-verbally - the supercilious posture, the hard stare, the deep voice, the peremptory tone, the constant interruptions and other dominance displays.
Dominance can also be pursued in the content of an argument, using a host of dirty tricks designed to make an opponent look weak or foolish. These can include:
•Arguing "ad hominem" - attacking the person rather than the argument itself
Unterscheiden sich die Konflikte um Gendern, Gender Pronomen, rassistische ”Microaggressions” oder die Frage, ob Transpersonen mit biologischen Frauen und Männern gleichzusetzen sind, von den Konflikten der frühen Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Homosexuellen-Bewegungen?
1) Bei vielen entsteht die Wahrnehmung, dass nicht nur illegitime Schlechterstellungen aufgehoben werden, sondern zugleich die Freiheiten anderer eingeschränkt werden sollen (bezüglich der Art, wie wir sprechen; von Frauen in Frauenhäusern, -gefängnissen, -wettkämpfen usw.).
2) Während linke/ liberale Intellektuelle und Bürger sich damals einig waren, dass die Lage der Arbeiter, Frauen, Nichtweißen und Homosexuellen jeder Berechtigung entbehrt und auf eine bekannte Art zu lösen ist, sind Problem und Lösung jetzt uneindeutig und kontrovers.
Hypothese: Soziale Bewegungen beginnen oft rational - Anprangern 1) einer Kluft zwischen Werten und Handeln oder 2) einer fehlerhaften (z.B. sexistischen, rassistischen) Ideologie oder 3) einer unerkannten desaströsen Entwicklung - und entwickeln sich dann ins Irrationale hinein.
Die Rationalität von Bewegungen wäre immer eine bewegungs-externe, herrührend von Menschen, die unabhängig denken, keine Aktivisten sind, sondern Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler: so bei der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, der Klimabewegung.
Der Hypothese gemäß sähe man im Verlauf einer Bewegung immer eine Entwicklung zu weniger Rationalität. Motto: „Bewegungen denken nicht.“ Sie sind an Selbsterhaltung, an Erfolg interessiert (um mit Nietzsche oder Foucault zu sprechen, an Macht), werden darum zunehmend ideologisch.
Fast alle großen Debatten unserer Zeit - über Corona, Impfstoffe, Klima, Gender, angeblich manipulierte Wahlen und Weltverschwörungen - kreisen um Wissen und Logik. Zum Jahreswechsel ein paar einfach-naive Gedanken dazu, wie die Religion unsere Haltung zu Wissen und Logik prägt.
Religiöse Texte können wir zur
Denkübung nutzen, aber auch um uns (schon als Kind) das Denken abzugewöhnen und zu verbieten, die Hinnahme unbewiesener und unsinniger Behauptungen zu normalisieren. - Als ein willkürliches (nachweihnachtliches) Beispiel nehme ich Jesus als Erlöser.
Einige einfache Fragen:
1) Ist es moralisch zu rechtfertigen (und damit im Rahmen der Religion logisch), dass Gott ca. 2 Mio Jahre - oder nach biblischer Zeitrechnung ein paar Tausend Jahre - wartet, bis er den Menschen den Erlöser schickt?
Alle Debatten unserer Zeit – ob es um Corona und Impfen geht, um die Klimakrise und die Biodiversitätskrise, um Einwanderung, um politische Korrektheit, um Trans und Terfs – sind davon geprägt (ja kommen erst dadurch zustande), dass wir das für uns schwierige Wissen ignorieren.
Für jeden Menschen gibt es Wissen, das man “das schwierige Wissen” nennen kann. Es ist Wissen, das man nicht zur Kenntnis nehmen will, das nicht anziehend, sondern abstoßend ist, nicht bestätigend, sondern verunsichernd. Es bedroht meine Integration in bestehende Gemeinschaften.
Für jedes Individuum, jede Gruppe und jedes Milieu, für jede Bewegung, jede Organisation und jede Partei, für jede Institution, jedes Unternehmen, jede Branche und jede Nation gibt es das schwierige Wissen. Ein Wissen, das Angst auslöst, das existenzbedrohend zu sein scheint.