Die Lücke, die wir Linken lassen:

Verschwörungsmythen entstehen in einem narrativen Vakuum. Unsere Erfahrungen verlangen nach einer Erzählung. Dabei gilt: Wenn du eine Geschichte nicht richtig erzählen kannst, wird jemand kommen, der sie falsch erzählt.

Die Lücke wird gefüllt.
In den vergangenen 20 Jahren gab es viele politische Probleme, die buchstäblich geschichts-los geblieben sind, die nicht Teil des Narrativs einer großen politischen Kraft wurden und damit frei vagabundierendes und verfügbares Material für Verschwörungserzählungen abgaben.
1) Milliardäre. Der durch nichts legitimierte, demokratisch nicht steuerbare politische Einfluss von Milliardären wie den Koch-Brüdern, Zuckerberg, Soros, Gates usw. Die Linke müsste das Problem viel stärker aufgreifen, erst recht da, wo das Geld plötzlich ”auf ihrer Seite” ist.
2) Finanzkrise. Die Rettung der Banken mit Steuergeld. In den USA sogar durch eine vermeintlich linke Regierung. Too big to fail. Too big to jail. Während die normale Bevölkerung ihre Häuser verliert, auf der Straße landet, die Krise, die sie nicht verursacht hat, ausbaden muss.
3) Einwanderung. All die falschen Behauptungen von Politikern und Journalisten darüber, dass die Einwanderung nichts als ein ökonomischer Nutzen und ein kultureller Gewinn sei. Obwohl jedem klar ist, dass das nicht stimmt, die Probleme enorm sind. Wer es ausspricht, ist „rechts“.
4) Macht der Tech-Konzerne. Über „wahr“ und „unwahr“, „Information“ und „Desinformation“ zu entscheiden. Zu bestimmen, wer spricht, wer nicht. Danaergeschenk an die Linke, die sich über jedes einzelne Canceln freuen mag, aber im Ganzen als Teil einer illegitimen Macht erscheint.
5) Kürzung von Sozialleistungen, Schikanen der Sozialbürokratie, Verteuerung von Wohnraum, Verlust von Arbeitsplätzen - während die politische Linke hauptsächlich mit Minderheiten- und Umweltschutz-Themen befasst scheint. Rollenwechsel von der Anwältin zur Erzieherin des Volkes.
Wenn diese Probleme nicht Teil des richtigen Narrativs einer guten politischen Kraft werden, werden sie eben Teil falscher Narrative unheilbringender Kräfte. Es gibt eine Evolution der Geschichten, wie es eine Evolution der Viren gibt: Die ansteckendste Variante setzt sich durch.
Man findet die fünf genannten Beispiele als Elemente in vielen Verschwörungserzählungen. Jedes Mal wird ein reales Problem überinterpretiert, über-erzählt, es wird auch dort narrativer Sinn erzeugt, wo eigentlich keiner ist: Alles ist (böse) Absicht, Teil eines teuflischen Plans.
Will die politische Linke verhindern, dass sich immer mehr Menschen ihre realen Erfahrungen durch falsche Erzählungen plausibilisieren lassen, muss sie den rationalen Kern im Irrationalen erkennen, sich der Probleme ehrlich annehmen, Versagen eingestehen und wieder Geschichten …
erzählen, die keine Verschwörungsmythen nötig machen. Wenn du eine Geschichte nicht richtig erzählen kannst, wird jemand kommen, der sie falsch erzählt: Rechtspopulisten und Querdenker werden die ansteckenderen Erzählungen haben, solange die Linke das Reale im Irrsinn ignoriert.
Nachtrag: Mit „Erzählungen“ oder „Geschichten“ ist kein Spin gemeint, keine propagandistischen Anekdoten, sondern Erzählung, wie sie Geschichtsschreibung leistet. Menschliche Wirklichkeit ist ja zunächst sich Ereignendes in der Zeit; alle Begriffe Abstraktionen dieser Geschichte.

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4 Jan
Lesenswerter Text von Steven Pinker: Wege, in diesem Jahr rationaler zu werden.

Whenever we engage in an intellectual discussion, our goal ought to be to converge on the truth. But humans are primates - and often the goal is to become the alpha debater.

bbc.com/news/world-597…
It can be done non-verbally - the supercilious posture, the hard stare, the deep voice, the peremptory tone, the constant interruptions and other dominance displays.
Dominance can also be pursued in the content of an argument, using a host of dirty tricks designed to make an opponent look weak or foolish. These can include:
•Arguing "ad hominem" - attacking the person rather than the argument itself
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4 Jan
Was ist moralisches Handeln? Das Gute zu tun, und das Böse zu bekämpfen? Fast alle unsere moralischen Erzählungen von Heiligen Büchern über Sagen und Märchen bis hin zu Netflix-Serien folgen diesem Muster. Die Linke. Die Rechte. Jede Terrororganisation, jeder Verschwörungsglaube.
Führt Empathie zum moralisch richtigen Handeln? Nicht unbedingt. Oft ist das Gegenteil der Fall: Mit Opfern mitzufühlen, führt dann zum Wunsch, die Täter mit Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Muslime, die mit muslimischen Opfern mitfühlen, greifen ”Ungläubige” an. Israelis …
die mit jüdisch-israelischen Opfern mitfühlen, greifen Pälestinenser an. Deutsche, die mit den Opfern des Judenmords und der Kolonisierung und Ausbeutung des Globalen Südens mitfühlten, gründeten die RAF und ermordeten die, die sie für schuldig hielten. Ich las in der Zeitung …
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29 Dec 21
Unterscheiden sich die Konflikte um Gendern, Gender Pronomen, rassistische ”Microaggressions” oder die Frage, ob Transpersonen mit biologischen Frauen und Männern gleichzusetzen sind, von den Konflikten der frühen Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Homosexuellen-Bewegungen?
1) Bei vielen entsteht die Wahrnehmung, dass nicht nur illegitime Schlechterstellungen aufgehoben werden, sondern zugleich die Freiheiten anderer eingeschränkt werden sollen (bezüglich der Art, wie wir sprechen; von Frauen in Frauenhäusern, -gefängnissen, -wettkämpfen usw.).
2) Während linke/ liberale Intellektuelle und Bürger sich damals einig waren, dass die Lage der Arbeiter, Frauen, Nichtweißen und Homosexuellen jeder Berechtigung entbehrt und auf eine bekannte Art zu lösen ist, sind Problem und Lösung jetzt uneindeutig und kontrovers.
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28 Dec 21
Hypothese: Soziale Bewegungen beginnen oft rational - Anprangern 1) einer Kluft zwischen Werten und Handeln oder 2) einer fehlerhaften (z.B. sexistischen, rassistischen) Ideologie oder 3) einer unerkannten desaströsen Entwicklung - und entwickeln sich dann ins Irrationale hinein.
Die Rationalität von Bewegungen wäre immer eine bewegungs-externe, herrührend von Menschen, die unabhängig denken, keine Aktivisten sind, sondern Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler: so bei der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, der Klimabewegung.
Der Hypothese gemäß sähe man im Verlauf einer Bewegung immer eine Entwicklung zu weniger Rationalität. Motto: „Bewegungen denken nicht.“ Sie sind an Selbsterhaltung, an Erfolg interessiert (um mit Nietzsche oder Foucault zu sprechen, an Macht), werden darum zunehmend ideologisch.
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28 Dec 21
Fast alle großen Debatten unserer Zeit - über Corona, Impfstoffe, Klima, Gender, angeblich manipulierte Wahlen und Weltverschwörungen - kreisen um Wissen und Logik. Zum Jahreswechsel ein paar einfach-naive Gedanken dazu, wie die Religion unsere Haltung zu Wissen und Logik prägt.
Religiöse Texte können wir zur
Denkübung nutzen, aber auch um uns (schon als Kind) das Denken abzugewöhnen und zu verbieten, die Hinnahme unbewiesener und unsinniger Behauptungen zu normalisieren. - Als ein willkürliches (nachweihnachtliches) Beispiel nehme ich Jesus als Erlöser.
Einige einfache Fragen:

1) Ist es moralisch zu rechtfertigen (und damit im Rahmen der Religion logisch), dass Gott ca. 2 Mio Jahre - oder nach biblischer Zeitrechnung ein paar Tausend Jahre - wartet, bis er den Menschen den Erlöser schickt?
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20 Dec 21
Alle Debatten unserer Zeit – ob es um Corona und Impfen geht, um die Klimakrise und die Biodiversitätskrise, um Einwanderung, um politische Korrektheit, um Trans und Terfs – sind davon geprägt (ja kommen erst dadurch zustande), dass wir das für uns schwierige Wissen ignorieren.
Für jeden Menschen gibt es Wissen, das man “das schwierige Wissen” nennen kann. Es ist Wissen, das man nicht zur Kenntnis nehmen will, das nicht anziehend, sondern abstoßend ist, nicht bestätigend, sondern verunsichernd. Es bedroht meine Integration in bestehende Gemeinschaften.
Für jedes Individuum, jede Gruppe und jedes Milieu, für jede Bewegung, jede Organisation und jede Partei, für jede Institution, jedes Unternehmen, jede Branche und jede Nation gibt es das schwierige Wissen. Ein Wissen, das Angst auslöst, das existenzbedrohend zu sein scheint.
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