Ob Corona, Klimawandel, Political Correctness in Geschlechterfragen - die Frage ”Was ist wahr?”, die in der modernen Gesellschaft vor allem die Wissenschaft beantworten soll, steht im Zentrum der größten Konflikte der Gegenwart. Aber was ist Wissenschaft? 1/30
Wissenschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von gewöhnlicher Wahrnehmung und gewöhnlichem Denken, wie Gegenüberstellungen von Wissenschaft auf der einen Seite und ”gesundem Menschenverstand” bzw. ”natürlicher Erfahrung” auf der anderen Seite glaubenlassen. 2/30
Wissenschaft ist nichts als verbesserte Wahrnehmung und verbessertes Denken. 3/30
Beispiel Wahrnehmung: das Sehvermögen unserer Augen wird verstärkt durch Mikroskop, Teleskop, Satellitenkameras, Unterwasserkameras, Röntgenstrahlen, Magnetresonanztomographie usw. 4/30
Denken: Unser Denken wird verbessert durch Mathematik, Begriffsbildung, theoretische Modelle und das Erkennen und Vermeiden häufig auftretender Denk-Verzerrungen (biases) und logischer Irrtümer (logical fallacies) 5/30
Wiederholung: Anstatt aus der ersten Beobachtung sofort Schlüsse zu ziehen, werden Wahrnehmungen und Denkoperationen wiederholt: Experimente werden systematisch wiederholt. Rechnungen werden systematisch wiederholt. Studien werden systematisch wiederholt (= repliziert). 6/30
Methodik: Die systematische Weise, wie Menschen zu bestimmten Wahrnehmungen und Denkresultaten gelangen, ist die wissenschaftliche Methode. Durch die Methode ist die Untersuchung intersubjektiv (= für andere) nachprüfbar und wiederholbar/ replizierbar. 7/30
Kontrolle: Wahrnehmungen und Denkoperationen werden systematisch von anderen Forschenden nachvollzogen und kontrolliert (→ peer-review). 8/30
Wiederholung, Methodik und Kontrolle hat die Wissenschaft der Alltagswahrnehmung und dem Alltagsdenken voraus. Die Prozesse von Letzteren sind immer anders, können nicht repliziert werden und werden von Nahestehenden meist nicht kontrolliert, sondern unkritisch konfirmiert. 9/30
Erst wenn Meta-Studien zeigen, dass viele Studien von anderen Forscherteams zum gleichen Ergebnis kommen, gewinnt eine Hypothese an Glaubwürdigkeit. 10/30
Wissenschaft ist verbesserte, aber nicht perfekte Wahrnehmung. 11/30
Wissenschaft ist verbessertes, aber nicht perfektes Denken. 12/30
Darum kann man nicht, wie es in den Medien und sozialen Medien oft geschieht, eine einzelne Studie, einen einzelnen Forscher anführen und behaupten: „Die Forschung hat gezeigt …“ (Statt dessen müssen Vorläufigkeit, Begrenztheit und offene Fragen der Studie betont werden.) 13/30
Aus gleichem Grund macht es keinen Sinn zu sagen: „Trust the science!“ 14/30
„Follow the science!” bedeutet, dass die Politik jeweils von dem ausgehen sollte, was der meist gesicherte Wissensstand der Zeit ist (durch Studien, die einer peer review standgehalten haben und mit gleichem Ergebnis repliziert wurden). 15/30
„Follow the science!” heißt nicht, dass Ergebnisse/ Prognosen der Wissenschaft als unumstössliche Wahrheiten gelten; sondern dass wir unser Handeln nach dem ausrichten, was nach Maßgabe unseres Wissens mit größter Wahrscheinlichkeit eintreffen wird, wenn wir nicht handeln. 16/30
Wissenschaft ist nicht „die neue Religion“. Niemand soll „an Wissenschaft glauben“. Wissenschaft bedeutet, zu wissen, dass wir das Meiste (noch) nicht wissen; dass wir Vieles nie wissen werden; dass alles Wahrgenomme Täuschung und alles Gedachte Irrtum sein kann. 17/30
Wissenschaftsskepsis macht keinen Sinn: Sobald ich mit rationalen Gründen an wissenschaftlichen Ergebnissen, Methoden, Theorien zweifele, nehme ich am wissenschaftlichen Prozess teil. Schere ich mich nicht um gute Gründe, bin ich nicht skeptisch, sondern vorurteilsbehaftet. 18/30
Es gibt keine wissenschaftliche Politik. Politik ist im besten Fall Deutung und Anwendung von Wissenschaft, bleibt also Politik und als Politik fehlbar, kritisierbar, veränderbar. 19/30
Der Vorteil wissenschaftlichen Denkens gegenüber Religion und Ideologie drückt sich in dem Satz aus: ”Ich weiß es nicht.” Von der Aufrichtigkeit und Klarsicht angesichts des eigenen Nichtwissens geht das Fragen aus, das Fortschritt ermöglicht, das Leben zum Abenteuer macht. 20/30
Kein Mensch sollte von sich selbst behaupten, er stehe „aufseiten der Wissenschaft“, nur weil bestimmte wissenschaftliche Ergebnisse zu seiner politischen Einstellung passen. 21/30
Es gibt wenige Menschen, die Wissenschaft auch dort verteidigen, wo Forschungsergebnisse ihren politischen Forderungen den Grund entziehen. 22/30
Wissenschaft und Aktivismus stehen notwendig in einem Spannungsverhältnis zueinander. Ein spannungsfreies Verhältnis haben Aktivisten immer nur zu ausgewählten wissenschaftlichen Disziplinen und ausgewählten wissenschaftlichen Fragen. 23/30
Die Wissenschaft ist ein soziales Feld wie jedes andere. Wissenschaft wird beinflusst von Geld, von Interessen, ist strukturiert durch Machtgefüge, geprägt von einem Kampf um Ressourcen und Anerkennung, ist Schauplatz menschlicher Schwächen, menschlichen Versagens. 24/30
Das ist kein Argument gegen Wissenschaft - alle Institutionen der Gesellschaft (des Rechtsstaats, der Politik, des Journalismus) sind als soziale Felder allen gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt, kennen kein Funktionieren „in Reinform“. 25/30
Es ist eine wissenschaftliche Aufgabe, die Dysfunktionalitäten des wissenschaftlichen Betriebs zu untersuchen - damit die Gesellschaft sie besser kontrollieren und einschränken kann. 26/30
Sich selbst überlassen, wird das menschliche Denken von Gefühlen, Vorurteilen, Hörensagen, Glauben und Ideologien regiert - moderne Gesellschaften haben drei Mechanismen der Wahrheitsfindung entwickelt, die den vormodernen Nebel lichten: Justiz, Journalismus, Wissenschaft. 27/30
Das Internet stellt zusätzliche Ressourcen der Wahrheitsfindung bereit - und dreht zugleich das Rad der Zeit zurück, stößt uns zurück in den vormodernen Nebel: vielleicht die größte Herausforderung der Wissenschaft unserer Zeit. 28/30
Die Wissenschaft hilft uns, existenzielle Bedrohungen, denen die Menschheit sich gegenübersieht, zu verstehen und zu überwinden: Hunger, Armut, totale Herrschaft, tödliche Viren und Bakterien, Naturzerstörung, Klimawandel. 29/30
Die Wissenschaft hat vielen dieser Bedrohungen, dieser Risiken den Weg geebnet (der modernen Zivilisation, Kraftwerken, Verbrennungsmotoren, vielleicht auch dem SARS-CoV-2-Virus) - Wissenschaft richtet sich zunehmend auf die nicht-intendierten Nebenfolgen von Wissenschaft. 30/30
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Verschwörungsmythen entstehen in einem narrativen Vakuum. Unsere Erfahrungen verlangen nach einer Erzählung. Dabei gilt: Wenn du eine Geschichte nicht richtig erzählen kannst, wird jemand kommen, der sie falsch erzählt.
Die Lücke wird gefüllt.
In den vergangenen 20 Jahren gab es viele politische Probleme, die buchstäblich geschichts-los geblieben sind, die nicht Teil des Narrativs einer großen politischen Kraft wurden und damit frei vagabundierendes und verfügbares Material für Verschwörungserzählungen abgaben.
1) Milliardäre. Der durch nichts legitimierte, demokratisch nicht steuerbare politische Einfluss von Milliardären wie den Koch-Brüdern, Zuckerberg, Soros, Gates usw. Die Linke müsste das Problem viel stärker aufgreifen, erst recht da, wo das Geld plötzlich ”auf ihrer Seite” ist.
Lesenswerter Text von Steven Pinker: Wege, in diesem Jahr rationaler zu werden.
Whenever we engage in an intellectual discussion, our goal ought to be to converge on the truth. But humans are primates - and often the goal is to become the alpha debater.
It can be done non-verbally - the supercilious posture, the hard stare, the deep voice, the peremptory tone, the constant interruptions and other dominance displays.
Dominance can also be pursued in the content of an argument, using a host of dirty tricks designed to make an opponent look weak or foolish. These can include:
•Arguing "ad hominem" - attacking the person rather than the argument itself
Was ist moralisches Handeln? Das Gute zu tun, und das Böse zu bekämpfen? Fast alle unsere moralischen Erzählungen von Heiligen Büchern über Sagen und Märchen bis hin zu Netflix-Serien folgen diesem Muster. Die Linke. Die Rechte. Jede Terrororganisation, jeder Verschwörungsglaube.
Führt Empathie zum moralisch richtigen Handeln? Nicht unbedingt. Oft ist das Gegenteil der Fall: Mit Opfern mitzufühlen, führt dann zum Wunsch, die Täter mit Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Muslime, die mit muslimischen Opfern mitfühlen, greifen ”Ungläubige” an. Israelis …
die mit jüdisch-israelischen Opfern mitfühlen, greifen Pälestinenser an. Deutsche, die mit den Opfern des Judenmords und der Kolonisierung und Ausbeutung des Globalen Südens mitfühlten, gründeten die RAF und ermordeten die, die sie für schuldig hielten. Ich las in der Zeitung …
Unterscheiden sich die Konflikte um Gendern, Gender Pronomen, rassistische ”Microaggressions” oder die Frage, ob Transpersonen mit biologischen Frauen und Männern gleichzusetzen sind, von den Konflikten der frühen Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechts- und Homosexuellen-Bewegungen?
1) Bei vielen entsteht die Wahrnehmung, dass nicht nur illegitime Schlechterstellungen aufgehoben werden, sondern zugleich die Freiheiten anderer eingeschränkt werden sollen (bezüglich der Art, wie wir sprechen; von Frauen in Frauenhäusern, -gefängnissen, -wettkämpfen usw.).
2) Während linke/ liberale Intellektuelle und Bürger sich damals einig waren, dass die Lage der Arbeiter, Frauen, Nichtweißen und Homosexuellen jeder Berechtigung entbehrt und auf eine bekannte Art zu lösen ist, sind Problem und Lösung jetzt uneindeutig und kontrovers.
Hypothese: Soziale Bewegungen beginnen oft rational - Anprangern 1) einer Kluft zwischen Werten und Handeln oder 2) einer fehlerhaften (z.B. sexistischen, rassistischen) Ideologie oder 3) einer unerkannten desaströsen Entwicklung - und entwickeln sich dann ins Irrationale hinein.
Die Rationalität von Bewegungen wäre immer eine bewegungs-externe, herrührend von Menschen, die unabhängig denken, keine Aktivisten sind, sondern Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler: so bei der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, der Klimabewegung.
Der Hypothese gemäß sähe man im Verlauf einer Bewegung immer eine Entwicklung zu weniger Rationalität. Motto: „Bewegungen denken nicht.“ Sie sind an Selbsterhaltung, an Erfolg interessiert (um mit Nietzsche oder Foucault zu sprechen, an Macht), werden darum zunehmend ideologisch.
Fast alle großen Debatten unserer Zeit - über Corona, Impfstoffe, Klima, Gender, angeblich manipulierte Wahlen und Weltverschwörungen - kreisen um Wissen und Logik. Zum Jahreswechsel ein paar einfach-naive Gedanken dazu, wie die Religion unsere Haltung zu Wissen und Logik prägt.
Religiöse Texte können wir zur
Denkübung nutzen, aber auch um uns (schon als Kind) das Denken abzugewöhnen und zu verbieten, die Hinnahme unbewiesener und unsinniger Behauptungen zu normalisieren. - Als ein willkürliches (nachweihnachtliches) Beispiel nehme ich Jesus als Erlöser.
Einige einfache Fragen:
1) Ist es moralisch zu rechtfertigen (und damit im Rahmen der Religion logisch), dass Gott ca. 2 Mio Jahre - oder nach biblischer Zeitrechnung ein paar Tausend Jahre - wartet, bis er den Menschen den Erlöser schickt?