Am Freitag hat die Stadtregierung einen umfassenden und großteils ziemlich ambitionierten Wiener Klimafahrplan vorgestellt (120 Seiten). Ich bin jetzt durch. Im Thread 🧵eine Zusammenfassung und Einschätzung:
Erstmal findet sich darin eine angenehm klare Sprache: Die Situation sei ernst, die Herausforderungen werden klar benannt und wir können manches nicht mehr verhindern. Daher umfasst der Plan neben Maßnahmen zum Klimaschutz auch vieles im Bereich Klimaanpassung.
Doch durch gemeinsames und entschlossenes Handeln könne das Schlimmste abgewendet werden: Für Wien bedeute dies laut Prognosen in Zukunft entweder Temperaturen wie in "Marseille oder der westafrikanischen Metropole Dakar".
Während Bund bzw Bundesländer dahingehend noch nicht geliefert haben, erfüllt Wien zentrale Forderungen der Klimawissenschaft & -bewegung und gibt sich: 1) Nicht nur ein allgemeines Ziel (klimaneutral 2040), sondern auch konkrete und damit überprüfbare sektorale Reduktionspfade.
2) Ein verbleibendes Treibhaugasbudget von 60 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten. Der Klimawissenschafter Daniel Huppmann (u.a. IPCC) schätzt diese auch als realistisch ein:
Viel klarer als im Bund auch die Verbindung v. sozialer & ökologischer Frage: "Während Wohlhabende den Klimawandel [...] noch befeuern, treffen die Effekte vor allem ärmere Menschen. [...] Wirksame Klimapolitik bedeutet eine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen."
Erste Schwäche: Die Emissionen von großen Kraftwerken sind ausgenommen. Das Argument: Diese würden unter den Emissionshandeln fallen. Auch wenn dann doch einige Maßnahmen genannt werden, wäre es besser gewesen hier über den ETS hinaus umfassende Ziele zu setzen.
Sehr engagiert sind die Festlegungen in einem der herausforderndsten Bereiche: Bis 2040 sollen alle Gebäude in Wien thermisch (Ziel: -30% Endenergieverbrauch) und energetisch (Ersatz fossiler durch nachhaltige Heizsysteme) saniert sein.
Das bedeutet auch eine Verpflichtung auf eine weitgehende Erneuerung der Substanz des "roten Wiens". 43% der Haushalte wohnen in Wien in einer Gemeindewohnung.
Gut auch, dass offen der Investitionsbedarf angesprochen wird: 1 Mrd jährlich allein für Wien, 15.000 Arbeitsplätze könnten so entstehen. Andere Schätzungen sehen den Bedarf noch höher.
Das wird nur gegen die neoliberale EU-Restriktionen zur öffentlichen Finanzierung sozial-ökologischer Investitionen durchsetzbar sein. Gut, wenn das zu einem politischen Ziel wird. etui.org/about-etui/new…
Durchwachsen ist der Verkehrsbereich. Beginnen wir einmal mit den erfreulichen & teilweise überraschenden Feststellungen: 1) Der Verkehr wird als eines der größten Probleme erkannt, bei dem Wien viel in der Hand hat: 42% der Emissionen (blau) in Wien stammen aus dem Verkehr.
2) Es wird das Ziel bestätigt den individuellen Autoverkehr (und zwar unabhängig, ob fossil betrieben oder E-Auto, da man zurecht u.a. auch eine Reduktion des Endenergieverbrauchs anstrebt) bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren. In 8 Jahren (!).
Erfreulich auch, dass sich dazu einige mutige Ansagen finden: Zonenmodell Parkraumbewirtschaftung, Staffelung von Preis und Berechtigung nach Größe und Verbrauch des Autos (das wäre Abschied von bzw. Druck auf SUVs). Rückbau von Stellplätzen,...
Um so unverständlicher ist, warum man dann im Bereich der Stadtstrasse auf stur stellt und nicht in wirkliche Gespräche mit den Klimaaktivist:innen eintritt:
Vor allem wo sich schon eine Lösung bzw. ein Kompromiss andeutet: Re-Dimensionierung. Um die Seestadt anzubinden braucht es keine vierspurige Autobahn, die massiv Boden versiegeln würde. Sondern eine mit Fußgänger- und Fahrradwegen versehene zweispurige Straße.
Lobautunnel und "Stadtautobahn" sind bei 50% weniger Autos 2030 nicht einmal gerechtfertigt, wenn man von der drohenden Klimakatastrophe abstrahiert. Die Stadt sollte daher die Besetzung zur Chance machen, mit den Aktivist: innen ihre eigenen Ziele zu erreichen.
Dazu hat der Wiener Klimafahrplan auch noch andere Vorschläge: Nicht nur soll der öffentliche Verkehr massiv ausgebaut werden, sondern auch Schnellbusse kommen, die gerade für die Donauquerung und die Verkehrsströme zwischen Floridsdorf und der Donaustadt zentral wären.
Die ganze Lektüre zeigt auch, dass aus Sicht der Klimaanpassung eine Notwendigkeit für die Zurückdrängung von Autos und Parkplätzen besteht: Angeführt wird u.a., dass schon die Starkregen der letzten Jahre das Kanalsystem an seine Grenzen gebracht haben.
Die Lösung wäre ein schnelles Vorantreiben der Schwammstadt: Entsiegelung, mehr Bäume, denen tiefes Wurzeln erlaubt wird. Damit wird Wasser zurückgehalten: Das kühlt und entlastet das Kanalsystem.
Ähnliches führt der Klimafahrplan für Radwege, Beschattung, Nahwärme, Gebäudebegrünung und Hitzeausweichräume für sozial Schwächere aus: All diese notwendigen Maßnahmen für Klimaschutz & -anpassung brauchen Platz. Und den gibt es: Auf den Straßen, die bisher den Autos gehörten.
Kurz: Der Wiener Klimafahrplan ist engagiert & das weitreichendste Ziel- & Maßnahmenpaket, das bisher in Österreich vorgelegt wurde. Wenn die Stadt ihn ernst meint, braucht es eine Verkehrswende. Die Klimaaktivist:innen weisen der Stadt den Weg, sie sollte ihnen die Hand reichen.
#Klimafahrplan: Lesen, diskutieren, die Maßnahmen einfordern und sich selbst einbringen. Schaffen werden wir das nur, wenn wir eine soziale und ökologische Stadt für alle gegen die fossilen Profitinteressen durchsetzen.
Erratum: Es sind 43% in Gemeindewohnungen und Genossenschaftswohnungen. 22% sind es allein in Gemeindewohnungen. Danke für den Hinweis, liebe @lafilledevienne! statistik.at/web_de/statist…

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Jan 23
Martina #Salomon vom bürgerlichen Kurier sieht in der Argumentation des Generalanwaltes des EuGH, dass die Indexierung der Familienbeihilfe gleichheitswidrig sei, eine Bevormundung. Da braucht es anscheinend eine Auffrischung in Sachen bürgerlicher Demokratie (Thread).
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Jan 7
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