Es erscheint paradox: Ausgerechnet in Ländern, die besonders viel für Geschlechtergerechtigkeit tun, werden messbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Schnitt größer statt kleiner – und das in ganz erstaunlichen Lebensbereichen. Was ist da los? 🧵 mit Forschungsdaten |1
2| Der Abbau von sichtbaren und unsichtbaren sozialen Hürden für Frauen soll Ergebnisungleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigen, die als ungerecht(fertigt) empfunden werden. Manche Forscher sprechen vom "Gender Equality Paradox", wenn stattdessen das Gegenteil passiert.
3| Bekanntestes Beispiel: Arbeitsmarkt. Vorurteile und Hürden für Frauen in stereotyp männlichen Berufen sollen abgebaut werden, aber ausgerechnet da, wo der Zugang besonders gefördert wird, lernen Frauen im Schnitt seltener solche Berufe. Bild: UNESCO-Studie im IKT-Sektor (Q1).
4| Mitunter wird die Datenqualität kritisiert (vgl. Q2), aber auch gut vergleichbare PISA-Daten zeigen ähnliche Muster: Sachzentrierte Berufe ziehen überall eher Jungs an, personenzentrierte Berufe eher Mädchen. Je mehr Gleichberechtigung herrscht, desto größer die Lücke (Q3).
5| Und es hört auch nicht bei beruflichen Interessen auf: Mehrere Studien finden dasselbe Schema auch bei individuellen Persönlichkeitsausprägungen, z.B. bei den Big-5-Merkmalen Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Extraversion und Verträglichkeit. Ein Beispiel (Q4):
6| Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der geschlechterspezifischen Ausdifferenzierung von Lebenseinstellungen wie Erfolgs- oder Statusstreben, Hedonismus usw. (Q5) sowie bei Prioritäten zu persönlichen moralischen Überzeugungen wie Fürsorge, Fairness oder Loyalität (Q6).
7| Auch bei stereotyp gegenderten Interessen geht die Schere in egalitären Ländern weiter auf, wie eine Studie zu 45.397 Hobbys auf Facebook ergibt (Q7). Sogar beim Schach (Bild), mit ca. 90% Männeranteil sowieso ein extrem gegenderter Sport, lässt sich dieser Trend zeigen (Q8).
8| Das ließe sich fortführen. Wir finden vergleichbare Korrelationen z.B. bei geschlechterspezifischen Depressionsraten (Q9), aggressivem Verhalten Jugendlicher (Q10), akademischen Publikationsraten (Q11) und sogar beim durchschnittlichen Blutdruck der Bevölkerung (Bild, Q12).
9| Letztes Beispiel: Babynamen. Die phonosemantische Forschung sagt uns, dass Vornamen teils über den Klang stereotyp gegendert werden. Die Namen für Jungs etwa klingen im Schnitt sprachübergreifend etwas härter (voiced). Raten Sie mal, wo der Unterschied am am größten ist (Q13).
10| Nur: Wie genau ein solcher Zusammenhang aussehen könnte, bleibt unklar. Direkt oder über Umwege? Sind es ökonomische Zwänge und Freiheiten? Oder evolutionspsychologische Faktoren, nach denen sich in egalitären Ländern angeborene Geschlechterunterschiede frei entfalten können?
11| Eine besonders deprimierende Erklärung postuliert eine Studie aus Sicht der Theorie sozialer Rollen: Demnach sind in Ländern mit egalitärem Fokus Genderstereotype (Mathe ist nichts für Mädchen) größer als anderswo. Das wäre dann wirklich das paradoxeste aller Paradoxe (Q14).
12| Über die Fragen, die diese Forschung aufwirft, könnte man locker ein Buch schreiben. Könnten wir wachsende Ungleichheit akzeptieren, wenn wir ja eigentlich Hürden abbauen wollen? Ist Parität dann ein sinnvolles Ziel? Was ist uns insgesamt wichtiger: Chancen oder Ergebnisse?
13| Wie sollen wir "Gender Equality" messen, wenn Ergebnisgleichheit vielleicht gar nicht aus dem Abbau von ungewollten Hürden und Stereotypen folgt? Und wenn das so wäre: Woran würden wir denn überhaupt erkennen, dass wir unser Ziel einer gerechten Gesellschaft erreicht haben?
14| Ich habe leider auch keine fertigen Antworten auf diese Fragen. Andererseits renne ich auch nicht herum und fordere lautstark diese oder jene politische Maßnahme. Hilfreich fände ich, wenn die Leute, die solche Interventionen befürworten, uns vorher ihre Antworten verraten.

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Dec 20, 2021
"Wenn's dir nicht gefällt, mach neu!", sang einst Peter Fox. Und jetzt zum Jahreswechsel nehmen viele sich genau das vor: weg mit den schlechten Angewohnheiten, her mit dem guten Leben. Hier kommen (wie versprochen) ein paar praxistaugliche Strategien, wie das klappen kann.🧵 |1
2| In Teil 1 dieses Threads habe ich aus neurologischer und psychologischer Perspektive erklärt, warum es so schwer ist, alte Gewohnheiten zu ändern (unten verlinkt). Aus diesen Erkenntnissen lassen sich Kriterien für gelungene Veränderungen ableiten.

3| Kurz: Der Ärger mit Gewohnheiten ist, dass es sich um automatisierte Lösungen für wiederkehrende Probleme handelt. Auf einen Impuls hin löst das Gehirn die gespeicherte Routine einfach und ungefragt aus. Das ist der "habit loop": Problem (bzw. Impuls), Routine, Belohnung (Q1).
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Dec 13, 2021
Dass Männer- und Frauenkörper so unterschiedlich sind, dass viele Sportarten der Fairness halber besser nach Geschlecht getrennt werden, sollte eigentlich unkontrovers sein. Ist es aber nicht, deshalb hier mal ein paar Daten zum (durchschnittlichen) männlichen Vorteil. |1
2| Besonders kontrovers: Transfrauen im Leistungssport. Welche Vorteile eines männlichen Körpers behält eine Person, die als Mann erwachsen geworden ist und dann dank Testosteronsuppression Zugang zu Frauenwettbewerben erhält? Auch hierzu ein paar Daten: sehr erhebliche Vorteile.
3| Ich bin natürlich nicht vom Fach. Ob es auch Daten gibt, die ganz andere Ergebnisse bieten, weiß ich nicht (gerne ein Hinweis), aber auf dieser Grundlage kann man eine Öffnung der Frauenwettbewerbe nur auf Basis von Testosteronsuppression nicht mit gutem Gewissen befürworten.
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Nov 20, 2021
Die EU plant die #Chatkontrolle, eine anlasslose, flächendeckende Überwachung elektronischer Kommunikation. Beim Nachdenken darüber kam mir die Frage in den Sinn: Was macht das eigentlich mit den Leuten, dieses ständige Sich-beobachtet-Fühlen? 🧵 zur psychologischen Forschung |1
2| Um es gleich vorwegzunehmen: Beobachtet werden ist keine Kleinigkeit, sondern ein profunder Eingriff in fundamentale kognitive Abläufe. Ich sehe mich selbst, schreibt Sartre, weil ich weiß, dass andere mich sehen. In den Augen der Anderen werden wir uns unserer Selbst bewusst.
3| Steckt man Leute in fMRI-Scanner, kann man diesen Effekt sichtbar machen. Unter Beobachtung werden für dieselbe Handlung andere Hirnregionen aktiviert, verstärkt z.B. Bereiche für soziale Kognition, motorische Kontrolle und die Neuorientierung von Aufmerksamkeit. Q1
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Nov 12, 2021
Dass Gene nicht bloß unsere Augenfarbe, sondern auch komplexe Aspekte des Lebens wie Bildungserfolg erheblich prägen, wissen wir längst aus Zwillingsstudien. Jetzt enthüllen wir langsam konkrete Genvariationen, die dafür verantwortlich sind. Was machen wir mit diesem Wissen? |1 Image
2| Die blauen Linien in der Grafik (Q1) stehen für die Erblichkeitsschätzungen einzelner Merkmale aus Zwillingsstudien. Orange steht für die Erblichkeit, die wir mit heutigem Wissen aus Genanalysen auf Bevölkerungsebene mit teils Millionen von Probanden (GWAS) errechnen können.
3| Beispiel: Zwillingsstudien suggerieren eine Erblichkeit von Bildungserfolg von ~40%. ~12% Erblichkeit können wir heute schon auf additive Effekte konkreter Genvarianten zurückführen. Vor ein paar Jahren waren es bloß ~2%. Dank immer größerer Samples wächst unser Wissen rasant.
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Oct 27, 2021
Alle Menschen haben Vorurteile. Ob wir wollen oder nicht, das Gehirn überträgt wahrgenommene Muster auf Menschen, bevor wir sie als Individuen erleben. Unklar ist, wie groß dieser Effekt in der Praxis ist. Eine schöne neue Studie über "erste Eindrücke" geht der Frage nach. |1
2| Im Fokus steht die Frage, wie viel eines ersten Eindrucks von Gruppenzugehörigkeiten (hier: nationale Herkunft als Proxy für Kultur) abhängt und wie viel von individuellen Faktoren der Beteiligten. Grundlage sind 2 Experimente mit 24.886 Bewertungen zu 13 einzelnen Merkmalen.
3| Hier das Resultat: Gerade einmal 3,2 % der Varianz wird von den Herkunftsvariablen erklärt, 29 % von Eigenheiten der Bewerter, 16 % von Eigenheiten der Bewerteten. Anders gesagt: Erste Eindrücke sind hier extrem individuell und hängen nur marginal von kultureller Herkunft ab.
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Oct 19, 2021
Schlafmangel, freiwillig und unfreiwillig, ist ein echtes Problem. Das ist Teil 2 meiner kleinen Werbekampagne für den Schlaf. Auch dieser Teil enthält wieder einen guten Grund und einen kleinen Tipp für guten Schlaf. Zum Einstieg aber eine Statistik: Schlafmangel und BIP (Q1) |1
2| Unser guter Grund heute: Schlafmangel macht dick. Mutmaßlich. Die Korrelation ist schon mal deutlich (Bild, Q2). In einer Metastudie war 1 verpasste Stunde Schlaf pro Nacht mit ca. 1,4 kg Zusatzgewicht assoziiert. Die Kausalität ist noch unklar, beide Richtungen sind möglich.
3| Studien haben aber schon einige Mechanismen identifiziert, wie Schlafmangel eine solche Gewichtszunahme auslösen könnte (Bild), darunter hormonale Veränderungen, die hungrig machen. Experimente ergeben: Wer weniger schläft, isst nicht nur mehr, sondern auch ungesünder (Q3).
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