Heute war Notenabgabe.
Ich habe eine neue Praxis, die ich kurz vorstellen möchte – und drei Probleme, die ich nicht lösen kann. #notenade 🧵
Ich spreche mit allen Schüler*innen (oder schreibe) ihnen. Dabei gebe ich ihnen eine wertschätzende Rückmeldung zu ihren Leistungen im letzten Semester, erwähnte, woran ich mich besonders erinnere, was mich gefreut hat etc.
Ich teile ihnen dabei auch ihre Semesternote mit, die ich aber nicht rechnerisch begründe, sondern versuche, gesamthaft plausibel zu machen. (Das gelingt mir nicht immer, zumal die Schüler*innen sich untereinander vergleichen und Noten »brauchen«.)
Das ist das erste Problem: Noten entscheiden rechtlich verbindlich. Ich muss sie so setzen, dass ich bei Einsprachen etc. souverän mathematisch begründen kann, warum die Semesternote so ist, wie sie ist.
Meine ganzen Bemühungen, Noten zu relativieren, Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen davon zu überzeugen, ihnen wenig Gewicht zu schenken – sie fallen am Ende des Semesters in sich zusammen. Cold hard numbers entscheiden – vor allen pädagogischen Fragen.
Das ist kräftezehrend und frustrierend – das erste Problem. Das zweite: Gegen Ende des Semesters muss ich noch alles fertig bewerten und korrigieren etc. Ich arbeite sehr viel, aber völlig sinnlos: Ich weiß, dass das, was ich mache, den Lernenden, der Schule und mir schadet.
Es ist der einzige Bullshit-Job-Aspekt an meinem Beruf. Dennoch ist er enorm emotional besetzt. Kurz: Ich bewältige am Fließband sinnlose bürokratische Akte, die irrational mit Bedeutung aufgeladen sind. Je mehr ich mich mit Noten auseinandersetze, desto lähmender wird das.
Aber ich werde ja dafür bezahlt, es ist mein Job, ich muss nicht jammern. Das dritte Problem ist gravierender: Schüler*innen schreiben in ihren Reflexionen, wie viel sie lernen, wenn sie etwas Neues ausprobieren, in schwierige Situationen geworfen werden.
Sie machen dann Fehler, die ihnen Entscheidendes aufzeigen. Diese Lerngelegenheiten nehmen viel Raum ein – weshalb ich sie bewerten muss. Gleichzeitig bin ich fast gezwungen, Schüler*innen für produktive, lehrreiche Fehler zu bestrafen.
Noten erzwingen also eine destruktive Fehlerkultur.
Die Kritik an Noten und Praktiken, mit denen ich Unterricht von ihnen befreien kann, kosten viel Energie. Sie stellen aber kleine Schritte dar, mit denen eine Veränderung möglich sein wird. Davon bin ich weiter überzeugt.
Schon erstaunlich, wie schnell Schwurbel-Narrative in den Mainstream gekippt sind. Politische Entscheide basieren nur noch auf wirtschaftlichem Wunschdenken.
(Nach Woche mit Rekord-Fallzahlen wäre es doch sinnvoll, mal zwei Wochen zu warten, um Auswirkung auf Spitäler zu sehen?)
Andreas Kunz (@andikunz) ist ein Paradebeispiel dafür – er hat in der @sonntagszeitung regelmäßig Talking Points der Schwurbel-Szene übernommen. Ein paar (wenige) Beispiele:
»Kein Wunder, sprechen Ärzte vermehrt davon, dass ihre Patienten nicht «durch», sondern «mit» dem Coronavirus sterben.« (5. April 2020)
Gestern hat dieser Tweet einige Reaktionen ausgelöst. Dazu ein paar Bemerkungen: (1) Mein Ziel ist, dass Schüler*innen bewusst mit der deutschen Sprache umgehen. Gespräche zu führen und ihnen dabei zuzuhören, wie sie argumentieren, ist dabei eine zentrale Methode. #fddeutsch
(2) Meine Frage ist weder ein Druckversuch noch eine Drohung, wie viele mir unterstellen. Meine Unterrichtskultur verzichtet auf Druck – was man von außen vielleicht nicht sieht.
(3) »gendern« meint hier eine Lösung zu finden, welche die Probleme des generischen Maskulinums umgehen kann. (4) Gendern ist nicht das wichtigste Thema und es löst alleine keine Probleme. Aber es ist ein Ausdruck davon, andere Perspektiven ernst zu nehmen.
Was heißt das?
Lehrende bieten bewusst/unbewusst oft »teaching to the test« an – sie nehmen gut wahr, was Schüler*innen hinsichtlich von Prüfungsaufgaben (nicht) können. Alles, was nicht ins Aufgabenschema passt, ist in Bezug auf Diagnose schwieriger.
Digitale Medien werden nun häufig genau so eingesetzt – man misst zunächst einmal, ob die Lernenden die Vokabeln können, wie viele Mathe-Aufgaben sie lösen können. Dabei stellt sich zunächst die entscheidende Frage nicht: Was müsste passieren, damit sie einen Schritt vorankämen?
Ein großes Thema rund um #notenade: Selektion.
Wie kann man Schüler*innen ohne Noten bestimmten Schultypen zuteilen?
Hierzu ein kurzer Rückblick auf das Aufnahmeverfahren an Gymnasien im Kanton Zürich.
Die Selektion beim Übertritt nach dem 6. SJ erfolgt leicht vereinfacht über drei Benotungsverfahren:
Noten in der Grundschule (Vorschlagsnoten), Mathe und Deutsch.
Noten in der Aufnahmeprüfung, Mathe und Deutsch.
Noten im ersten Semester des Gymnasiums (alle zählenden Noten).
Vor etwas mehr als 10 Jahren hat man getestet, ob ein zusätzlicher IQ-Test fairer wäre. Das passt zur Vorstellung von Elsbeth Stern, die immer wieder fordert, dass das Gymnasium den intelligentesten 20% der Schüler*innen vorbehalten bleiben müsse.
Die Pandemie und Fragen zum Umgang mit Digitalität in der Bildung haben bei mir eine doppelte politische Ernüchterung und Frustration ausgelöst: Einfluss auf Entscheidungen haben zu selten Menschen mit Expertise und zu häufig Lobbys.
Viele Prozesse sind auch in demokratischen Ländern nicht demokratisch strukturiert, sondern im Kern korrupt. Für mich steckt darin die zentrale Herausforderung: Wie schaffen es Demokratien, Expertise Legitimation und politischen Einfluss zu geben?
Viele Bestrebungen von Lobbys sind nichts anderes als eine Diskreditierung von Wissenschaft und Fachpersonen. Das ist aus meiner Sicht sehr gefährlich. Ja, es gibt Bereiche, in denen es eine Aushandlung braucht, auch politische Konflikte.