Gestatten: Ramona J., 57 Jahre alt. Die gebürtige Hamburgerin bietet sich Männern auf dem Elendsstrich rund um den Hansabrunnen im Stadtteil St. Georg an, weil sie keine andere Möglichkeit sieht, ihre Drogensucht zu befriedigen. Verkehr 15 Euro. Oral 8 Euro.
Weil sie damit gegen eine in Hamburg geltende Sperrgebietsverordnung verstößt, landet sie regelmäßig vor Gericht. Und bekommt regelmäßig eine Geldstrafe aufgebrummt, die sie nur stemmen kann, indem sie wieder auf den Strich geht.
Strafrecht at its worst: Immer wieder steht Ramona J. wegen Paragraf 184f, „Ausüben unerlaubter Prostitution“, vor dem Amtsgericht. Schon ein halbes Dutzend Mal vor derselben Richterin, im Urteil steht jeweils: „Der Angeklagten wird gestattet, in Raten zu bezahlen“.
Was das heißt, ist klar. „Das hat sie mir sogar gesagt, dass sie weiter anschaffen geht, auch um die Geldstrafen zu bezahlen“, so berichtete die Richterin, selbst frustriert über diese Lage, auf dem Strafverteidigertag in Münster 2018. (Hier Redemanuskript)
Moment, ist Prostitution in Deutschland nicht legal? Doch, eigentlich schon. Seit 2002 gilt: Eine Frau, die sich prostituiert, tut nicht einmal etwas Sittenwidriges. Aber ganz gleichgültig ist es dem Staat weiterhin nicht, sondern …
… das Prinzip heißt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Genau wie das Glücksspiel ist auch das anrüchige Geschäft der Prostituierten in bestimmte Stadtzonen verbannt. Hamburg hat wie die meisten Bundesländer (Ausnahme: Berlin) deshalb „Sperrgebiete“ bestimmt.
So gilt in Hamburg-St.Pauli: Prostitution erlaubt. In Hamburg-St.Georg dagegen: Prostitution verboten. Und wer auf der falschen Seite dieser Grenze sexuelle Dienste anbietet: Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe (Paragraf 184f).
Das trifft fast ausschließlich Elendsprostituierte. Frauen (und Männer), die aus den etablierten Rotlicht-Zonen verscheucht werden, wo die Claims zwischen Zuhältern abgesteckt sind. Dort ist kein Platz für ältere, drogenkranke Frauen wie Ramona J.
Es wäre falsch zu sagen, dass der Rechtsstaat einfach zusieht bei ihrem Elend. Der Rechtsstaat sieht nicht nur zu. Er bestraft dieses Elend auch noch. Vielleicht sähe Ramona J.s Leben etwas weniger schlimm aus, wenn sie nicht auch noch Geldstrafen abarbeiten müsste.
By the way: Ramona J.s Freier bekommen es nicht mit der Strafjustiz zu tun. Auch sie verstoßen zwar gegen die Sperrgebietsverordnung. Aber bei ihnen gilt das nur als Ordnungswidrigkeit. 🤷🏻♂️
Nicht nur deshalb: Der Straftatbestand 184f sollte gestrichen werden.
720 Euro Geldstrafe, wie es im jüngsten Urteil gegen Ramona J. hieß: Wenn sie das auf dem Elendsstrich verdienen muss, sind das umgerechnet 48-mal Geschlechtsverkehr à 15 Euro. Oder 90-mal Oralverkehr à 8 Euro.
Dank an @Leonie_Steinl, von der ich viel gelernt habe. Mehr zu 184f und Ramona J. in Kapitel VII:
Länder, in denen jede/r Angeklagte unabhängig vom Geldbeutel eine/n Anwält/in bekommen kann:
Viele Menschen hierzulande glauben: Wer angeklagt ist, bekommt auf Wunsch immer eine Verteidigung. Notfalls halt auf Staatskosten (oder zumindest so, dass der Staat die Kosten vorstreckt). So ist es ja auch in den meisten Nachbarländern.
Aber so ist es nicht. In Deutschland gewährt der Staat nur bei besonders schweren oder kniffligen Delikten eine sogenannte „notwendige Verteidigung“. Das trifft nur auf etwa 10 Prozent der Fälle zu.
Viele Menschen glauben, Diebstähle, die aus Not heraus begangen werden, würden bei Gericht eher milder bewertet.
Leider kennen viele Menschen nicht die deutsche Regel des „gewerbsmäßigen“ Diebstahls.
Kleiner 🧵👇
Gestatten: Herr C., 50 Jahre alt, Wohnhaft im „Pik As“, einer Übernachtungsstätte für obdachlose Männer in Hamburg. Das Amtsgericht verurteilte ihn wegen Diebstahls dreier Rasierer (Gesamtwert 59,97 Euro) bei Rossmann.
Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland war von 2 großen Lebenslügen geprägt. 1.: Im KZ habe es auch unschuldige Tätigkeiten gegeben. Nicht jeder Wachmann sei am Verbrechen beteiligt gewesen. Mit dieser Begründung…
…haben deutsche Strafgerichte jahrzehntelang darauf bestanden, dass einem KZ-Wachmann erst einmal individuell eine bestimmte Gewalttat nachgewiesen musste. Sonst könne es ja sein, dass er gar nichts Verbrecherisches getan habe.
Diese Sichtweise hat die Justiz erst 2011 hinter sich gelassen, in dem Münchner Urteil gegen den einstigen KZ-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk. Da war es freilich schon zu spät, um noch relevant zu sein für viele Tausend deutsche KZ-Wachleute.
Es ist beunruhigend für Jurist*innen, bei einem Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz die Lebensläufe der Männer zu lesen, die dort einst bei einem Arbeitsfrühstück die Ermordung der europäischen Juden besiegelten. „Ordentliche“ Juristenlebensläufe. 1/4
Auch die Sprache, die sie in ihrem Schriftverkehr pflegten, ist heutigen Jurist*innen unheimlich vertraut. Wer sich diese Zeit nimmt, der sieht seine eigene juristische Profession danach mit anderen Augen. Es ist beunruhigend, aber es ist eine gute Beunruhigung. 2/4
Die Legende, wonach Juristen im NS im Großen und Ganzen neutral geblieben seien, als nüchtern-ideologieferne Techniker des Rechts, ist noch sehr lange gepflegt worden. Die deutsche Juristenschaft hat es sich hinter dieser Verdrehung der Tatsachen gemütlich gemacht. 3/4
Richterin am Amtsgericht Lena Dammann (Amtsgericht Hamburg-St. Georg), Oberstaatsanwalt Andreas Franck (Generalstaatsanwaltschaft München), Generalstaatsanwalt a.D. Helmut Fünfsinn (Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main),
Richter am Landgericht Christoph Gerken (LG Hamburg), Oberamtsanwältin Julia Grothues-Spork (Amtsanwaltschaft Berlin), Richter am Sozialgericht Claudius Hübbe (Hamburg), Richterin am Landgericht Lisa Jani (Landgericht Berlin),
Viele Jazzclubs in Berlin in den 1920ern wurden von Arabern geführt. Sie waren auch ein Schutzraum für jüdische Musiker. Kleiner Thread
Auf einer Fläche von 5000 Quadratmetern westlich der Gedächtniskirche am Ku’damm drängelten sich ein gutes Dutzend Bars: die Königin-, Roxy-, Uhu-, Kakadu-, Rosita- und Patria-Bar, mittendrin das Orient-Restaurant Schark („Osten“ auf Arabisch) in der Uhlandstraße.
Livrierte Portiers scheuchten alle außer den sehr elegant und vornehm wirkenden Besuchern davon, wodurch – wie M.H.Kater in „Gewagtes Spiel. Jazz im NS“ (1995) zeigt - auch die verhassten Spione der Reichsmusikkammer ferngehalten wurden, die sich stets schäbig kleideten.