Viele Menschen glauben, Diebstähle, die aus Not heraus begangen werden, würden bei Gericht eher milder bewertet.
Leider kennen viele Menschen nicht die deutsche Regel des „gewerbsmäßigen“ Diebstahls.
Kleiner 🧵👇
Gestatten: Herr C., 50 Jahre alt, Wohnhaft im „Pik As“, einer Übernachtungsstätte für obdachlose Männer in Hamburg. Das Amtsgericht verurteilte ihn wegen Diebstahls dreier Rasierer (Gesamtwert 59,97 Euro) bei Rossmann.
Urteil: 6 Monate Freiheitsstrafe.
Wieso so hart?
Natürlich war es nicht seine erste Tat. Aber maßgeblich war auch: Nach einer 150 Jahre alten Regel des Strafgesetzbuchs soll ein Dieb besonders hart bestraft werden, wenn er sich durch die Tat seinen Lebensunterhalt finanzieren will. Das nennt sich „Gewerbsmäßigkeit“.
Dann ist in der Regel eine Freiheitsstrafe vorgeschrieben. Eine Geldstrafe scheidet aus. Die ursprüngliche Idee war, „Berufsverbrecher“ schärfer zu bestrafen als Gelegenheitsdiebe. Heute interpretiert die Justiz diese Regel recht weit, nutzt sie also oft.
Wer stiehlt, weil er oder sie es „nötig hat“, wird nach dieser Regel nicht geschont, sondern sogar extra streng belangt. Ob er es „nötig hat“ zu stehlen, ist daher im Urteil festzustellen. Beim Herrn C. aus dem Hamburger „Pik As“:
So kommt es, dass sich Menschen vor Gericht mitunter mit der Aussage verteidigen: Frau Vorsitzende, ich bin nicht so arm, wie Sie denken! Herr C. aus dem „Pik As“ etwa hat das versucht. Die Richterin hat das im Urteil zurückgewiesen:
Um es deutlich zu sagen: Das mag alles wahr sein. Keine Frage: Die Richterin mag das korrekt durchschaut haben. Aber die Tatsache, dass diese Feststellungen zur Armut zu einer Verschärfung der Strafe führt, bleibt doch bemerkenswert.
Das bedeutet ja: Wenn der obdachlose Rasierer-Dieb wirklich „viel Geld gespart“ hätte, wie er der Richterin erzählte, wenn er das Stehlen also gar nicht nötig gehabt hätte, dann könnte er gegen das Urteil in Berufung gehen.
Vor den Richtern der nächsthöheren Instanz könnte er triumphierend seinen Kontostand präsentieren - Guckt mal, ich bin gar nicht so arm! – und tatsächlich seine Strafe abgesenkt bekommen.
Also, bei mir bleibt da ein Störgefühl…
(In dem konkreten Hamburger Fall waren auch noch andere Taten angeklagt, so dass am Ende eine Gesamtstrafe gebildet wurde. Für die drei Rasierer gab es aber - wie im Urteil transparent gemacht wird - eine Einzelstrafe von 6 Monaten.)
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland war von 2 großen Lebenslügen geprägt. 1.: Im KZ habe es auch unschuldige Tätigkeiten gegeben. Nicht jeder Wachmann sei am Verbrechen beteiligt gewesen. Mit dieser Begründung…
…haben deutsche Strafgerichte jahrzehntelang darauf bestanden, dass einem KZ-Wachmann erst einmal individuell eine bestimmte Gewalttat nachgewiesen musste. Sonst könne es ja sein, dass er gar nichts Verbrecherisches getan habe.
Diese Sichtweise hat die Justiz erst 2011 hinter sich gelassen, in dem Münchner Urteil gegen den einstigen KZ-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk. Da war es freilich schon zu spät, um noch relevant zu sein für viele Tausend deutsche KZ-Wachleute.
Es ist beunruhigend für Jurist*innen, bei einem Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz die Lebensläufe der Männer zu lesen, die dort einst bei einem Arbeitsfrühstück die Ermordung der europäischen Juden besiegelten. „Ordentliche“ Juristenlebensläufe. 1/4
Auch die Sprache, die sie in ihrem Schriftverkehr pflegten, ist heutigen Jurist*innen unheimlich vertraut. Wer sich diese Zeit nimmt, der sieht seine eigene juristische Profession danach mit anderen Augen. Es ist beunruhigend, aber es ist eine gute Beunruhigung. 2/4
Die Legende, wonach Juristen im NS im Großen und Ganzen neutral geblieben seien, als nüchtern-ideologieferne Techniker des Rechts, ist noch sehr lange gepflegt worden. Die deutsche Juristenschaft hat es sich hinter dieser Verdrehung der Tatsachen gemütlich gemacht. 3/4
Richterin am Amtsgericht Lena Dammann (Amtsgericht Hamburg-St. Georg), Oberstaatsanwalt Andreas Franck (Generalstaatsanwaltschaft München), Generalstaatsanwalt a.D. Helmut Fünfsinn (Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main),
Richter am Landgericht Christoph Gerken (LG Hamburg), Oberamtsanwältin Julia Grothues-Spork (Amtsanwaltschaft Berlin), Richter am Sozialgericht Claudius Hübbe (Hamburg), Richterin am Landgericht Lisa Jani (Landgericht Berlin),
Viele Jazzclubs in Berlin in den 1920ern wurden von Arabern geführt. Sie waren auch ein Schutzraum für jüdische Musiker. Kleiner Thread
Auf einer Fläche von 5000 Quadratmetern westlich der Gedächtniskirche am Ku’damm drängelten sich ein gutes Dutzend Bars: die Königin-, Roxy-, Uhu-, Kakadu-, Rosita- und Patria-Bar, mittendrin das Orient-Restaurant Schark („Osten“ auf Arabisch) in der Uhlandstraße.
Livrierte Portiers scheuchten alle außer den sehr elegant und vornehm wirkenden Besuchern davon, wodurch – wie M.H.Kater in „Gewagtes Spiel. Jazz im NS“ (1995) zeigt - auch die verhassten Spione der Reichsmusikkammer ferngehalten wurden, die sich stets schäbig kleideten.
Von 1. Februar an sollen #Facebook, #Twitter und Co. strafbare Äußerungen nicht nur blocken, sondern beim @bka anzeigen. Beschlossen wurde das schon 2020, Herzstück des Groko-„Maßnahmenpakets gg Rechtsextremismus und Hasskriminalität“.
Nun ist klar: Nope. Wird so nicht kommen.
Denn Facebook und Google protestieren mit „Eilanträgen“ gegen diese #Anzeigepflicht - ein Novum in Deutschland- beim Verwaltungsgericht Köln. Diese „Eilanträge“ (von Juli 2021) ziehen sich ewig lang hin, ohne dass entschieden würde.
Diese beiden Verfahren haben zwar überhaupt keine „aufschiebende Wirkung“. Aber das @bmj_bund hat im August von sich aus zugesicherrt: Wir verzichten vorerst freiwillig auf die Durchsetzung der Anzeigepflicht.
Heute & gestern sind in #Berlin 21 Menschen aus dem Gefängnis spaziert. Sie hatten nur wegen #Schwarzfahren|s eingesessen - 12 Männer (JVA Plötzensee), 9 Frauen (JVA Lichtenberg).
Spender/innen haben sie freigekauft.
Thread👇
„Beförderungserschleichung“, 265a StGB, ist ein Straftatbestand, an dessen Sinn auch viele Politiker/innen zweifeln, zuletzt NRW-Justizminister Biesenbach (CDU). Es geht bei jeder individuellen Tat bloß um Kleingeld. Die Verkehrsbetriebe missbrauchen die Justiz als Inkassobüro.
Gleichzeitig ist bei keiner anderen Straftat das Risiko so hoch, dass der/die Verurteile zahlungsunfähig ist. Die Folge: Die Geldstrafe muss in Haft abgesessen werden. So kommen jedes Jahr 7000 Menschen in Deutschland wegen bloßen Schwarzfahrens in „Ersatzfreiheitsstrafe“.