Sollte man das sogenannte N Wort nicht sagen?

#JoeRogan entschuldigt sich. Zu Recht?

Ich möchte gegen das Sprachtabu argumentieren.
1) Die psychologische Begründung

Die Diskurse von Kolonialismus, Sklaverei, Nationalsozialismus und anderen menschenverachtenden Systemen haben eine Vielzahl von Wörtern hevorgebracht, die mit schlimmster Herabsetzung, Misshandlung und Mord verbunden sind. Um die Erinnerung ...
an diese Verbrechen wachzuhalten (und auch den gegenwärtigen diskriminierenden Gebrauch dieser Wörter zu kritisieren), muss es möglich sein, die Wörter in Wissenschaft, Literatur, Journalismus, Kunst, Comedy und musealen Dokumentationen zu verwenden - in allen Kontexten, die ...
der Repräsentation, Analyse, Kritik und Lächerlichmachung des Menschenverachtenden dienen. Jedes Auschwitz-Zeugnis, ob in gesprochenem oder geschriebenem Wort, in Foto, Film oder Zeichnung, kann schwer erträgliche Gefühle wecken, Traumata reaktualisieren. Doch niemand käme ...
auf die Idee, sämtliche Zeugnisse sämtlicher Menschheitsverbrechen durch Umschreibungen unkenntlich zu machen. Dieser Logik folgend, müsste man, eher noch als rassistische Wörter, Fotos von Lynchmorden und der Sklaverei überhaupt (sich selbst) verbieten.
2) Das sprachliche Argument

In der Religion ist das Phänomen der Sprachmagie verbreitet. Das bloße Aussprechen eines Wortes hat eine bestimmte Wirkung, ist zwingend geboten oder verboten, unabhängig vom Kontext, unabhängig von der Absicht des Sprechenden, dem Sinn der Äußerung.
(Zwei Beispiele: das jüdische Verbot, das Gotteswort auszusprechen; das Gebot im Islam, nach der Nennung des Propheten die Formel ṣallā ʾllāhu ʿalayhi wa-sallam(a) auszusprechen.) Dieser magische (Nicht-)Gebrauch von Wörtern ist in einer säkularen Kommunikation fehl am Platz.
Erwachsene Menschen, sogar Kinder sollten unterscheiden können zwischen einer sprachwissenschaftlichen Diskussion des Wortes Schweinehund und einer Situation, in der mich jemand (ohne Ironie) einen Schweinehund nennt. Weigern wir uns bewusst, zwischen dem referierenden und dem...
performativen Gebrauch eines Wortes zu unterscheiden, geben wir das grundlegendste Verständnis von Sprache auf (Was will jemand sagen?), setzen Gutwillige mit Böswilligen gleich, Antirassisten, die das Wort in forschender oder künstlicherischer Absicht verwenden, mit Rassisten.
Damit zu konkreten Beispielen.

Der amerikanische Komiker Dick Gregory erzählt in einem Gespräch mit dem Historiker Manning Marable die Geschichte von Al Lingo, dem Chef der Alabama State Troopers, der Martin Luther King bedroht.
Gregory fährt fort:

”Now let me put it the way y'all want it today. He looked at Dr. King and said: 'N-word, when that n-word-lovin' president signs this executive order and you walk across this line, I'll blow your n-word brains out.' See, y'all just destroyed history!”
Und weiter:

”It was white folks changing it to the n-word. Not us. (…) Can you imagine the Germans, when they got upset with Hitler and what the Nazis did to the Jews, they changed the word swastika to the s-word and concentration camp to the c-word? You just destroy history!”
Problematisch würde beispielsweise auch eine akademische Diskussion über die Autobiographie von Dick Gregory. Oder die Erwähnung des Buchtitels gegenüber dem Besitzer eines Buchladens.
en.wikipedia.org/wiki/Nigger:_A…
Hier ein Comedy-Beispiel. Die Forklift-Story von Louis CK.

vimeo.com/118365040
Ein weiteres Beispiel ist natürlich das (Vor-)Lesen von Huckleberry Finn.

Der linke NYT Reporter Donald McNeil hat seine Arbeit und seine Arbeitswelt verloren, weil er in einer Diskussion mit Studenten das Wort in referierender Weise gebraucht hat.
Die Schriftstellerin Laurie Check wies in einem Seminar an der New Yorker New School darauf hin, dass der Dokumentarfilm "I'm Not Your Negro" den schwarzen Schriftsteller James Baldwin falsch zitiert (und zitierte ihn korrekt mit dem Wort Nigger). Check fragte, ob es zulässig ...
sei, historische Zitate aus Gründen politischer Korrektheit zu verändern. Das Ergebnis: eine Beschwerde und eine offizielle Untersuchung.

insidehighered.com/news/2019/08/0…
Hier eine unvollständige Liste von Leuten, die auf diese Weise Probleme bekommen haben.

Donald McNeil
Laurie Sheck
Phil Adamo
Paul Zwier
Eric Triffin
Greg Patton
Andrea Quenette
Darum glaube ich, dass ein solches Sprachtabu gefährlich ist - und unserem Umgang mit den großen Traumata der Geschichte (und Gegenwart) erschwert, nicht erleichtert.

Natürlich ist es ebenso fehl am Platz, solche Wörter als reine "free speech" Provokation zu benutzen.
Wie immer gilt: Einfache Lösungen gibt es nicht. Die Wirklichkeit begegnet uns meist in Form moralischer Dilemmata. Das Wichtigste ist eine besonnene und respektvolle Debatte, in der Menschen, die gute Absichten haben, sich ohne Angst vor Existenzvernichtung äußern können.
PS Wir dürfen auch nie vergessen, dass jedes "kulturelle Werkzeug", das wir verwenden, dann auch von Menschen verwendet werden wird, die keine guten Absichten haben - siehe z.B. den aktuellen Versuch, den Holocaust-Comic #Maus aus dem Schulunterricht zu entfernen.
Und selbstverständlich: Ich lasse mich auch gerne vom Gegenteil überzeugen, bin mir in keiner Argumentation - egal um was es geht - hundertprozentig sicher. Bin also dankbar für alle Gedanken.

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Feb 7
Fortschritt, der nicht wie Fortschritt aussieht:

Ich vermute, dass wir irgendwann, auf die Kulturkriege zurückblickend, feststellen werden, dass die Gesellschaft als ganze gelernt hat.

Es ist kein Lernen, das man zeigt oder zugibt, sondern diffundierendes, einsickerndes Lernen.
Um der "crazy left" ja nicht Recht zu geben und zu beweisen, wie irrsinnig alle Vorwürfe der Linken sind, bemühen sich zum Beispiel Ideologen auf Fox News, nichts eindeutig Rassistisches, Sexistisches oder Homofeindliches zu sagen. Umgekehrt sehe ich, wie Linke sich in den USA...
genötigt fühlen, sich von allem "canceln" abzugrenzen, den Eindruck zu vermeiden, die freie Rede zu beschneiden.

Der Wunsch, dem Feind nicht unnötig Munition zu liefern, führt so zum diffundierenden Lernen.

Nach einer Periode der Übertreibungen auf beiden Seiten werden wir...
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Jan 11
Ob Corona, Klimawandel, Political Correctness in Geschlechterfragen - die Frage ”Was ist wahr?”, die in der modernen Gesellschaft vor allem die Wissenschaft beantworten soll, steht im Zentrum der größten Konflikte der Gegenwart. Aber was ist Wissenschaft? 1/30
Wissenschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von gewöhnlicher Wahrnehmung und gewöhnlichem Denken, wie Gegenüberstellungen von Wissenschaft auf der einen Seite und ”gesundem Menschenverstand” bzw. ”natürlicher Erfahrung” auf der anderen Seite glaubenlassen. 2/30
Wissenschaft ist nichts als verbesserte Wahrnehmung und verbessertes Denken. 3/30
Read 30 tweets
Jan 6
Die Lücke, die wir Linken lassen:

Verschwörungsmythen entstehen in einem narrativen Vakuum. Unsere Erfahrungen verlangen nach einer Erzählung. Dabei gilt: Wenn du eine Geschichte nicht richtig erzählen kannst, wird jemand kommen, der sie falsch erzählt.

Die Lücke wird gefüllt.
In den vergangenen 20 Jahren gab es viele politische Probleme, die buchstäblich geschichts-los geblieben sind, die nicht Teil des Narrativs einer großen politischen Kraft wurden und damit frei vagabundierendes und verfügbares Material für Verschwörungserzählungen abgaben.
1) Milliardäre. Der durch nichts legitimierte, demokratisch nicht steuerbare politische Einfluss von Milliardären wie den Koch-Brüdern, Zuckerberg, Soros, Gates usw. Die Linke müsste das Problem viel stärker aufgreifen, erst recht da, wo das Geld plötzlich ”auf ihrer Seite” ist.
Read 13 tweets
Jan 4
Lesenswerter Text von Steven Pinker: Wege, in diesem Jahr rationaler zu werden.

Whenever we engage in an intellectual discussion, our goal ought to be to converge on the truth. But humans are primates - and often the goal is to become the alpha debater.

bbc.com/news/world-597…
It can be done non-verbally - the supercilious posture, the hard stare, the deep voice, the peremptory tone, the constant interruptions and other dominance displays.
Dominance can also be pursued in the content of an argument, using a host of dirty tricks designed to make an opponent look weak or foolish. These can include:
•Arguing "ad hominem" - attacking the person rather than the argument itself
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Jan 4
Was ist moralisches Handeln? Das Gute zu tun, und das Böse zu bekämpfen? Fast alle unsere moralischen Erzählungen von Heiligen Büchern über Sagen und Märchen bis hin zu Netflix-Serien folgen diesem Muster. Die Linke. Die Rechte. Jede Terrororganisation, jeder Verschwörungsglaube.
Führt Empathie zum moralisch richtigen Handeln? Nicht unbedingt. Oft ist das Gegenteil der Fall: Mit Opfern mitzufühlen, führt dann zum Wunsch, die Täter mit Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Muslime, die mit muslimischen Opfern mitfühlen, greifen ”Ungläubige” an. Israelis …
die mit jüdisch-israelischen Opfern mitfühlen, greifen Pälestinenser an. Deutsche, die mit den Opfern des Judenmords und der Kolonisierung und Ausbeutung des Globalen Südens mitfühlten, gründeten die RAF und ermordeten die, die sie für schuldig hielten. Ich las in der Zeitung …
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Jan 2
In den ideologischen Debatten unserer Zeit - um Corona, Klima, Trans, Political Correctness usw. - fallen die dummen Menschen bekannten Denk-Verzerrungen (cognitive biases) zum Opfer, während die intelligenten Menschen rational denken, Empirie und Logik beachten, richtig? Falsch.
Dan Kahan fand in einem Experiment heraus, dass besonders intelligente Menschen eine Aufgabe nicht besser lösen können als weniger intelligente, wenn … das Ergebnis ihrer politischen Überzeugung zuwiderläuft. Ja, sie waren sogar SCHLECHTER als die weniger intelligenten Menschen.
Bei Aufgaben ohne politische Implikationen schnitten intelligente Menschen zwar besser ab als weniger intelligente, aber sobald Überzeugungen ins Spiel kamen, wurde der Muskel Intelligenz nicht mehr zur Problemlösung gebraucht, sondern im Gegenteil dazu, sich selbst zu betrügen.
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