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Feb 25 47 tweets 9 min read
Lasst uns mal über etwas interessanteres reden als Krieg:

~~ Was ist #Philosophie und brauchen wir sie heutzutage noch? ~~ Image
Bei Vielen erweckt der Begriff Philosophie Assoziationen eines Höhere-Töchter-Studienfachs: ein Hobby für Menschen, die am liebsten über weithergeholte oder absurde Fragen grübeln. Andere denken vielleicht an Lebensweisheiten, die sich auf ein Kalenderblatt drucken ließen.
Worum aber handelt es sich wirklich? Lässt sich dieses Fach überhaupt so klar definieren wie beispielsweise "Geologie", "Theaterwissenschaft", "Mathematik", "Elektrotechnik", "Malerei", etc.?
Ein Philosophieprofessor, bei dem ich mal eine Vorlesung hörte, hatte eine interessante Definition parat: Philosophie ist jede geistige Anstrengung, die das gesamte Leben umspannt. Ein Elektrotechniker hört auf, Elektrotechniker zu sein, sobald er den Lötkolben weglegt...
...ein Philosoph dagegen ist auch dann Philosoph, wenn er isst, duscht, spazierengeht oder schläft: daher zähle auch die Kunst zur Philosophie. Auf meine Frage, ob man demnach auch die Naturwissenschaften dazu rechnen müsse, wackelte der Professor skeptisch mit dem Kopf.
Belustigenderweise erinnert dies an den am Schluss von "Kill Bill 2" von der Braut und Bill erörterten Unterschied zwischen Batman und Superman: ersterer höre auf, Superheld zu sein, sobald er das Kostüm ausziehe, Superman dagegen sei auch als Clark Kent durch und durch Superman. Image
"Philosophie" bedeutet wortwörtlich ganz einfach "Liebe zur Weisheit". In der Antike verstand man darunter jegliche Gelehrsamkeit: Mathematik, Logik, Rhetorik, Astronomie u.v.m.
Auch Archimedes, der primär Mathematiker und Ingenieur war, galt in diesem Sinne als Philosoph. Image
(Die Illustration zeigt ihn bei der Entdeckung des Verdrängungsgesetzes, Sekunden, bevor er "Eureka!" schreiend nackt durch die Straßen stürmte.)
Die antike Welt nahm die Erforschung des Universums als Einheit wahr. Im Laufe der darauffolgenden zweieinhalb Jahrtausende kristallisierten die verschiedenen Fachbereiche aus diesem in adriatischem Blau schimmernden Ideenozean aus.
Mathematik, Naturwissenschaften (die sich nochmal in verschiedene Unterdisziplinen zur Erforschung bestimmter Teilaspekte der Welt teilten), Theologie, Psychologie, Geschichtswissenschaften etc.

Für die Philosophie im engeren Sinne wurde es daher eng.
Die Fragen, zu deren Beantwortung man sie als notwendig ansah, wurden immer spärlicher. Bertrand Russell erklärte mit britischem Understatement, die Philosophie bewohne das Niemandsland zwischen Naturwissenschaften und Theologie.

(Der Mann sah einfach tödlich stylish aus!) Image
Heutzutage ist insbesondere die Vorstellung verbreitet, die theoretische Physik habe die Rolle der Ontologie (Grundlagenphilosophie, die sich mit "ultimativen" Fragen befasst: Warum gibt es etwas und nicht nichts? etc.) übernommen.
Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet also: Gibt es Probleme, die nicht mit Methoden der Naturwissenschaften (und ähnlichen Herangehensweisen, z. B. Auswertung archäologischer Funde oder alter Aufzeichnungen) gelöst werden können und einer eigenen Methodik bedürfen?
Im 20. Jahrhundert entstanden zwei Großgruppen von Philosophen, die diese Frage beide bejahten: allerdings bezüglich völlig unterschiedlicher Problemklassen.
Die eine, die man, da sie sich vorwiegend auf dem europäischen Festland aufhielt (insbes. in Paris), "kontinentale Philosophie" nennt, versuchte die Frage zu lösen: Welchen Geisteszustand sollte ein Mensch einnehmen, um sich mit seiner Existenz und dem Universum zu arrangieren?
Diese Philosophenschule, zu der die Existenzialisten rund um Sartre, Camus und de Beauvoir gehörten, entsprach am ehesten der populären Vorstellung moderner Philosophen: sitzen in Cafés an den Boulevards, rauchen, trinken Kaffee und Rotwein und diskutieren bis spät in die Nacht.. Image
...und zum Schluss macht jemand Andeutungen, er kenne da so eine Wohnung in Auteuil, wo eine Party stattfinde und mit guten Chancen auf Hasch und eine Orgie.
(Interessanterweise widerspricht diese hedonistische Auffassung geradezu diametral der traditionelleren, derzufolge ein Philosoph ein asketisches Leben führen müsse -- man denke an Kant und insbes. Schopenhauer, der es grässlich fand, dass Frauen ihn vom Denken ablenkten.)
In eine ähnliche Richtung ging auch die marxistische Philosophie, die in Osteuropa zur Staatsphilosophie¹⁾ geworden war: Hier lag der Schwerpunkt aber nicht so sehr darauf, wie der Einzelne sich mit der Welt arrangieren...

¹⁾ manchen zufolge eine contradictio in adjekto.
...sondern, wie Staat und Kultur gestaltet werden sollten, damit Menschen optimal leben könnten. Hier griff man, wenig originell, massiv auf die christliche Erlösungslehre und Platons "Politeia" zurück.
Die Frankfurter Schule, zu der u.a. Horkheimer und Adorno zählten, war in gewisser Weise ein gedankliches Scharnier zwischen den sowjetischen Marxisten und den Pariser Existenzialisten: sie versuchten, beides miteinander zu kombinieren und wurden zur gedanklichen Basis der 68er.
Man erhält leicht den Eindruck, die kontinentale Philosophie sei durchweg politisch links gewesen: dies stimmt jedoch nicht. Auch Heidegger, der vor allem durch reaktionär-naturmystischen Brei und unverhohlene Sympathie für die NSDAP auffiel, kann dazugerechnet werden.
Zeit, die verräucherten Cafés mit frischem britischem Wind durchzulüften. Die angelsächsische oder analytische Philosophie -- der schon erwähnte Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein, Husserl, Alfred North Whitehead u.a. -- fragte: Wie funktioniert unser Denken?
Etwas vereinfacht gesagt:
Wenn Menschen Autos wären, versuchte die kontinentale Philosophie darüber Klarheit zu erlangen, wo die Fahrt hingehen solle, die angelsächsische dagegen, wie der Motor und das Getriebe funktionieren.
Die analytische Philosophie beruhte auf Mathematik, Logik und Sprachwissenschaft, strebte maximale gedankliche Präzision an und gab wichtige Impulse für die Computerwissenschaft, die KI-Forschung und die Kryptografie. Image
~~~

6.53
Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft -- also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat --, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte...
...ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend -- er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten -- aber sie wäre die einzig streng richtige.
6.54
Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie -- auf ihnen -- über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

7
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

--- Ludwig Wittgenstein: "Tractatus logico-philosophicus"

~~~
Dies erinnert an japanische Zen-Philosophie! Um den im Buddhismus angestrebten Zustand des Nicht-Denkens, Nicht-Fühlens zu erreichen, meditieren Mönche über absurde und widersinnige Aussagen. Image
Ein Mönch fragte einmal Meister Joshu: "Hat ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?"

Joshu sagte: "Mu!"
Ein Mönch fragte Tozan: "Was ist Buddha?"

Tozan antwortete: "Drei Pfund Flachs."
In gewisser Weise bildet die Zen-Lehre ein Gegenstück zu den Gedanken Wittgensteins, das sich mit diesen Yin/Yang-artig zusammenfügt: Sie strebt ein Überwinden von Worten und Denken an -- Erlösung im meditativen Nichts --
weswegen jeder, der Zen mit Worten zu definieren sucht, es noch nicht verstanden hat. (Ich habe es also noch nicht verstanden.)

Wittgenstein schlussfolgert, dass die Philosophie sich selber überflüssig mache, indem sie die logische Struktur von Sprache und Denken aufschlüssele..
...so dass jede Frage, die formulierbar ist, entweder mit naturwissenschaftlichen oder mathematischen Methoden oder überhaupt nicht gelöst werden kann: mangels exakter Definition der Begriffe.
Was sich jedoch nicht sprachlich formulieren lässt, darüber kann man nicht sinnvoll nachdenken: hier beginnt Zen.
Beide Schulen -- kontinental und angelsächsisch -- führen letztlich in unbefriedigendes Gelände: Der ersten haftet etwas von schwärmerischer X-Beliebigkeit an (ein Gedanke ist wichtig, wenn er um drei Uhr Morgens im verqualmten Café nach dem zwanzigsten Rotwein wichtig klingt)...
...die andere setzt uns aus im Niemandsland zwischen Logik und Nicht-Denken aus.

Ich präferiere daher ein anderes Konzept:
** Philosophie ist die Wissenschaft, die alle anderen Wissenschaften miteinander verknüpft und zeigt, wie sie zusammenhängen. **
Physik, Mathematik, Politik, Psychologie, Kunst u.a. sind Gebäude, die Philosophie ist die Stadt, zu der sie gehören.
Eine philosophische Frage lautet beispielsweise: Welche gedanklichen Prozesse stecken hinter den Naturwissenschaften und was können wir von ihnen über die Welt lernen?

Dies habe ich in einem eigenen Thread untersucht: threadreaderapp.com/thread/1465400… Image
Oder das ultimative philosophische Problem -- vielleicht sogar das ultimativste Problem überhaupt, die Final Frontier des Denkens: Was ist Bewusstsein?
Wie es sein kann, dass ein System physikalischer Kräfte und Wellenfunktionen in der Lage ist, sich selbst als ein "Ich" wahrzunehmen, ist ein völlig ungelöstes Rätsel.
Notabene wissen wir ebensowenig, wie es sein kann, dass ein solches System über Eigenschaften wie Ladung, Masse etc. verfügt und auf andere Systeme Kräfte ausübt? Was ist Kraft, was ist Wellenfunktion, was ist Wahrscheinlichkeit, was Zeit?
Die Frage nach dem Bewusstsein ist womöglich mit der Frage nach der Natur der Realität eng verknüpft, oder sogar mit ihr identisch. Wir wissen noch nicht, mit welchen Methoden diese Probleme angegangen werden können oder ob sie überhaupt lösbar sind.
Die Philosophie steht, wie alle Wissenschaften, erst ganz an ihrem Anfang -- und die Zukunft dürfte viele weitere Rätsel aufwerfen, im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, außerirdischem Leben, Synthesen von Organik und Maschine. Image
"Das klingt alles interessant, welche Bücher kannst du zu dem Thema empfehlen?"

** Bertrand Russell: "Philosophie des Abendlandes" -- wie die Philosophie sich entwickelt hat...

** Douglas Hofstadter: "Gödel Escher Bach" -- mit welchen Fragen kann sie sich heutzutage befassen? ImageImage

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