Thread by @pavel23

Hier ist eine gute Analyse der "Schuldfrage", was die Invasion der Ukraine betrifft: Am Überzeugendsten finde ich den Punkt, dass das Abwenden von Russland und das Zuwenden zum Westen vor allem Folge der Kriminvasion war.

Bevor Russland die Krim und die Ostprovinzen der Ukraine besetzte, gab es in der Bevölkerung keine Mehrheit für einen NATO-Beitritt, und pro- und anti-russische Positionen hielten sich in etwa die Waage.

Mit der Krimannexion änderte sich zum die Wählerbasis, denn die bis dato zu über 90% prorussisch wählende Bevölkerung in den annektierten Gebieten fiel weg, was gemessen an der Gesamtukraine allein etwa 5% weniger prorussische Stimmen bedeutete.

Außerdem hat die Annexion der Krim auch zuvor vielr politisch neutrale oder prorussisch denkende Ukrainer zur Abkehr von Russland und zur Zuwendung zum Westen geführt.

Oder mit anderen Worten: Die Gründe, die Putin für die Invasion anführte, die zunehmende Russlandfeindlichkeit, die Aufrüstung der Ukraine und der Krieg im Osten waren primär Folge der Krimannexion und weniger eine Folge von Aktionen des Westens, der ...

...eigentlich kein großes Interesse an der Ukraine hatte und eher halbherzig dabei war und vor allem Ruhe und Stabilität in der Ukraine wollte und eher mäßigend einwirkte, etwa mit dem Steinmeierplan, der den Rückzug unkrainischen Militärs aus den Grenzregionen forderte.

Hätte Putin einfach abgewartet oder es weiter mit Zuckerbrot versucht, die Wahrscheinlichkeit wäre groß gewesen, dass sich die Ukrainer von sich aus Russland angenähert hätten und er wieder eine russlandfreundliche Regierung ins Amt hätte bringen können, ganz ohne Gewalt.

Er hätte einfach nur zuschauen müssen, wie die vom Westen eher im Stich gelassenen Regierungen der Ukraine sich die Karten gelegt hätten und dann als weißer Ritter der Ukraine wirtschaftlich unter die Arme greifen und etwa den Freihandel zwischen den Ländern stärken müssen.

Stattdessen brach wegen der Kriminvasion der Handel zwischen Russland und der Ukraine ein, und Putin kündigte 2015 das bis dahin bestehende Freihandelsabkommen mit der Ukraine, nachdem die Ukraine ein Handelsabkommen mit der EU geschlossen hatte. faz.net/aktuell/wirtsc…

Eine Befürchtung Russlands war, dass eine Annäherung der Ukraine an den Westen zugleich eine Abkehr von Russland bedeuten und einen Keil zwischen die beiden Völker treiben würde, wie aus dem Cable hervorgeht, über das ich hier geschrieben hatte:

https://twitter.com/pavel23/status/1497272662510424066

Tatsächlich sind die Befürchtungen eingetreten, aber nicht, weil der Westen einen Keil zwischen Russland und die Ukraine getrieben hat, sondern Putin selbst mit der Krimannexion einen so groben Keil eingetrieben hat, wie der Westen es nie vermocht hätte und auch nie wollte.

Putin hat glaube ich damals auch unterschätzt, wie viel echte Sympathie für Russland es im Westen gab und wie viel Interesse der Westen an guten Beziehungen zu Russland hatte und wie gering eigentlich das strategische Interesse des Westens an der Ukraine war.

Das Video beleuchtet auch die Situation vor dem Krimkrieg und das Argument, dass auch die USA niemals zulassen würden, wenn Mexiko oder Kanada etwa ein Militärbündnis mit China oder Russland schließen würden.

Das Argument setzt aber voraus, dass alles, was die USA oder der Westen macht, moralisch und völkerrechtlich einwandfrei ist. Es wäre aber genauso falsch, wenn die USA sich das Recht herausnehmen würden, die Außenpolitik Mexikos oder Kanadas bestimmen zu wollen und dort...

...einzumarschieren. Man kann Verbrechen schließlich nicht damit rechtfertigen, dass andere ja auch verbrecherisch handeln, nach dem Motto, Morden ist ok, weil andere morden. Zudem hat der Westen Russland niemals militärisch bedroht und würde nie in Russland einmarschieren.

Der Westen bzw. die NATO hat zudem die neuen Mitglieder nicht zum Beitritt zu NATO und EU gebracht, indem er Druck auf sie ausgeübt hat, im Gegenteil. Die Länder mussten durch viele Reifen hüpfen, um mitmachen zu dürfen.

Die von Russland und Putin persönlich verspürte Bedrohung war eher eine kulturelle, verbunden mit Verbitterung über den Abstieg von Russland als Weltmacht, aber dieser Abstieg war auch keine Folge von militärischer Intervention oder erfolgreicher Machtpolitik des Westens, ...

...sondern seiner kulturellen Kraft und Vielfalt und seiner Institutionen, die zu mehr Prosperität und vor allem zu einer höheren Befriedigung der Bedürfnisse nach individueller Selbstbestimmung und Selbstentfaltung des Einzelnen führen, ...

...was allerdings auch mit einer loseren Einbindung in die Gesellschaft einhergeht und das Gemeinschaftsinteresse auf Kosten von Einzelinteressen schwächt. Was die Geschichte aber auch gezeigt ist, dass westliche Gesellschaften eine bessere Balance ...

...zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteresse aufweisen, der Einzelne motivierter und produktiver ist und das System mit viel niedrigeren Kontroll- und Erzwingungskosten auskommt. Freiheitliche Demokratie ist aber kein Selbstläufer, ...

...sondern erfordert eine komplexe Vielfalt an Instititution und ständiges Nachjustieren, um zerstörerischen Prozessen und menschlichen Unzulänglichkeiten zu begegnen. Freiheitliche Demokratien sind nicht perfekt, aber das zivilisatorisch höchstentwickelte, das wir haben.

Putin hat keinen Gesellschaftsentwurf und keine politische Kultur im Angebot, die international attraktiv wäre. Russlands politisches System ist eine Krücke, entstanden aus Not, zusammengehalten von Putin und einer kleinen Machtelite, die Angst vor Kritik ...

...undabweichenden Meinungen hat und sich in viel höherem Maße der Lüge und Manipulation und Geheimhaltung bedienen muss als moderne Systeme, wo die Regierungskunst so hoch entwickelt ist, dass sie viel mehr Transparenz und Meinungsfreiheit verträgt.

Das Argument, dass die Ukraine am Besten ein neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West sein sollte, sticht auch nicht mehr, da nach Putins Aktionen klar ist, dass eine neutrale Ukraine ihm auch niemals gereicht hätte, so dass das auch den Frieden dort nicht gesichert hätte.

Zusammengefasst: Der Westen und insbesondere die USA sind keine Engel und haben auch verbrecherische Kriege geführt, aber das gibt Russland kein Recht, die Ukraine zu überfallen, und es war in erster Linie Russland, das den Keil zwischen sich und die Ukraine getrieben hat.