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Jun 30, 2022 38 tweets 11 min read Read on X
♦️UNTERSCHIEDE IN DEN OFFENEN BRIEFEN – ein Thread.

Brief 1 vom 29. April 2022: emma.de/artikel/offene…
Brief 2 vom 29. Juni 2022: zeit.de/2022/27/ukrain…

Offener Brief, Russland, Putin, Ukraine, schwere Waffen, Lumpenpazifismus, Appeasement, Waffenstillstand, Deutschland, USA Image
I KRIEGSMÜDIKEIT STATT ATOMTOD
In Brief 1 dominierte noch die Konstruktion einer apokalyptischen Lähmungsszenarios. Dieses narrative Element diente dazu, sich in einem imaginierten endgeschichtlich-postheorischen Zustand «einzuloggen».
Die implizite Behauptung war, dass wir mit der Lieferung schwerer Waffen nicht nur von diesem endgeschichtlich-postheorischen Zustand «hinabfallen», sondern uns der signifikanten Gefahr einer totalen Sofortzerstörung aussetzen würden. So beginnt Brief 1 im ersten Abschnitt
wie folgt: «Wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: …. das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges». Im dritten Abschnitt von Brief 1 geht’s dann weiter: «das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko
der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag
und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.»

Das narrative Element spielte auch in vielen anderen Beiträgen eine gewichtige Rolle, und wurde durch #Habermas’ Artikel in der @SZ dahingehend pointiert, dass man gegen eine Atommacht einfach nicht gewinnen könne.
Diese Erzählkomponente wurde seitdem von vielen Experten und Historikern stark kritisiert. Dabei wurde nie die grundsätzliche Möglichkeit einer nuklearen Eskalation bestritten, sondern die Überschätzung der Gefahr zurechtgerückt. Zuletzt hat nochmals @TimothyDSnyder in der @faz
nachgelegt und darauf hingewiesen, dass Atommächte in der Zeit des Kalten Krieges permanent bewaffnete Konflikte «verloren» hätten, ohne dass Atomwaffen zum Einsatz gekommen wären.
(Ich habe das auch mal in einem anderen Thread ausgeführt, siehe Tweet 51, Fig. 19 in )

#NATO #RUSSIA #UKRAINE #DONBAS #PUTIN
Dementsprechend rückt das apokalyptische Szenario im Brief 2 nun in den Hintergrund, freilich ohne ganz zu verschwinden. Statt an Atomängste wird nun an die sog. «Kriegsmüdigkeit» appelliert, zusammen mit einem moderaten Narrativ von der Unbesiegbarkeit Russlands:
«Je länger die Maßnahmen fortdauern, desto unklarer wird allerdings, welches Kriegsziel mit ihnen verbunden ist. Ein Sieg der Ukraine mit der Rückeroberung aller besetzten Gebiete einschließlich der Oblaste Donezk und Luhansk
und der Krim gilt unter Militärexperten als unrealistisch, da Russland militärisch überlegen ist und die Fähigkeit zur weiteren militärischen Eskalation besitzt.»
II PATERNALISMUS ABGESCHLANKT
Brief 1 schien noch einen «aktiven Paternalismus» gegenüber der Ukraine zu vertreten und klang so, als hätte der Westen Mitspracherecht bei den Ergebnissen der Friedensverhandlungen:
«Wir warnen vor einem … Irrtum: …. dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle.
Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.»

#NATO #WELZER #MERKEL #VARWICK #RUSSLAND #UKRAINE
Naheliegenderweise kam bei dieser (und ähnlichen Formulierungen in anderen Beiträgen) der Vorwurf einer «kolonialen Attitüde» auf. Dementsprechend ist Brief 2 vorsichtiger ausformuliert: Der Westen, in seiner Rolle als endgeschichtlich-postheroische Triebfeder,
sollte dieser Rolle gerecht werden und Verhandlungen zwar anstossen, diese aber nicht inhaltlich steuern: «Verhandlungen bedeuten nicht, wie manchmal angenommen wird, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren. Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben.
Verhandlungen bedeuten auch nicht, etwas über den Kopf der Beteiligten hinweg zu entscheiden. Die internationale Gemeinschaft muss vielmehr alles dafür tun, Bedingungen zu schaffen, unter denen Verhandlungen überhaupt möglich sind.»
III WORLD IMPACT STATT UKRAINISCHE VERANTWORTUNG
In der ersten Phase des Krieges kam aus dem Lager der Putin-Appeaser oft der Hinweis auf eine «ukrainische Verantwortung». Gemeint war die Tatsache, dass eine Fortführung der Kriegshandlungen
auch die Kriegsopferzahlen in der ukrainischen Bevölkerung steigert. Der Tenor war dann, dass der Krieg die vielen Kriegsopfer nicht wert sei und die ukrainische Regierung eigentlich unverantwortlich handle. In Brief 1 klang das so:
«Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.»
Auch
diese narrative Komponente wurde stark kritisiert. Neben der offensichtlichen Täter-Opfer-Verkehrung wurde darauf hingewiesen, dass eine Einstellung der Kriegshandlungen noch lange keinen Frieden für die okkupierte ukrainische Bevölkerung bedeuten würde. Brief 2 scheint darauf
zu reagieren, und kommt mit einer angepassten Erzählung daher. Das Leid der Ukrainer kommt nun nicht mehr explizit vor, die Tränendrüse wird sozusagen globalisiert: «Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über
Russland [J.S.K.: vollständiger Sieg ist nicht intendiert] bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint. Die Folgen des Krieges sind zudem nicht mehr auf die Ukraine begrenzt. Seine Fortführung verursacht massive
humanitäre, ökonomische und ökologische Notlagen auf der ganzen Welt. In Afrika droht eine Hungerkatastrophe, die Millionen von Menschenleben kosten kann. Rasant gestiegene Preise, Energie- und Nahrungsmangel haben in vielen Ländern bereits zu Unruhen geführt.
Auch die Düngemittelknappheit wird sich, wenn der Krieg über den Herbst hinaus fortdauert, global auswirken. Es ist mit hohen Opferzahlen und einer Destabilisierung der globalen Lage zu rechnen.
Auch auf internationaler politischer Ebene (G7, UN) werden diese drohenden dramatischen Folgen thematisiert.»

#NATO #Varwick #Ukraine #Russland #waffen #offenerbrief #Welzer #Merkel #Precht
IV ZIVILISATIONSFERN-ANIMALISCHES REAKTIONSSCHEMA
Ein grosser Teil der Putin-Appeasement-Community stellt Narrative auf, bei dem eine Erstschuldzuweisung bei den USA und ihren imperialistischen Agenten, der NATO, verortet wird. Diese Narrative müssen dabei
auf die Struktur des abendländischen Schuldbegriffs dahingehend eingehen, dass Schuldhaftigkeit einen freien Willen (aktive Steuerbarkeit) voraussetzt: nur wenn ich willentlich handle, und auch anders handeln könnte, kann ich schuldig werden. Die Konstruktion der
Schuldhaftigkeit vollzieht sich dann so, dass der USA / NATO in ihrer Rolle als eigentlich zivilisierte Westmacht eine grössere Freiheit (aktive Steuerbarkeit) in der Handlung zugesprochen wird als der weniger zivilisierten russischen Ostmacht. Russland,
so ist die implizite These, folgt in weiten Teilen einem Reaktionsmechanismus ähnlich einem Tier, das gereizt wurde und nun instinktiv zubeisst. An zentraler Stelle in Brief 1 findet sich noch ein Verweis auf eine solche Erzählstruktur, während sie in Brief 2 nicht mehr vorkommt:
«Wir warnen vor einem …. Irrtum: … dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.»
V MARKIERUNG ZIVILISATORISCHER AGENCY
Ich hatte schon im unten zitierten Thread darauf hingewiesen, dass es sich beim Putin-Appeasement um einen mentalen Zweiphasenkrieg handelt: vor der HALBWAHRHEIT kommt der STEREOTYP.

Zuerst müssen Stereotype gebildet und mental gefestigt werden, damit im nächsten Schritt die Akzeptanz von labilen Halbwahrheiten wahrscheinlicher wird. Die Bildung von Stereotypen ist dabei eine permanente Aufgabe: es muss dauernd etwas getan werden,
was den Stereotyp in Erinnerung ruft. In diesem Sinne habe ich im zitierten Thread darauf hingewiesen, dass der Ruf nach Verhandlungen auch der mentalen Markierung einer für sich selbst beanspruchten Führungsrolle in einem imaginierten endgeschichtlich-
postheroischen Zustand entspricht.
Dieses Motiv war schon in Brief 1 vorhanden, aber weniger ausgeführt – der Fokus lag damals auf Argumenten gegen schwere Waffen: «Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von
Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung - und in der Hoffnung auf eine gemeinsame
friedliche Zukunft.»
In Brief 2, nachdem nun schwere Waffen geliefert wurden und uns immer noch keine Atombombe auf den Kopf gefallen ist, nimmt die Verhandlungsaufforderung den gesamten zweiten Teil des Textes ein.

ENDE

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