Wenn man noch nie von #MECFS oder #PEM gehört hat, ist es vielleicht schwer nachzuvollziehen, warum aktivierende/graduelle Sporttherapie ("GET") eine potentiell sehr schädliche Fehlbehandlung bei dieser Erkrankung ist. Was soll an Sport so schlimm sein?

Ein 🧵für Außenstehende:
Begriffserklärungen, Links zu Studien und Infoseiten folgen im Anschluss. Zuerst möchte ich die Ausgangslage so einfach wie möglich erklären, weil es einfach so absolut unvorstellbar und surreal klingen muss, solang es einen nicht selbst betrifft.
Die Situation besteht seit Jahrzehnten und soll jetzt erneut für unbestimmte Zeit durch einen Bericht des IQWiG konsolidiert werden.

Seit Jahrzehnten werden Patient*innen mit ME/CFS fälschlich als psychisch krank diagnostiziert und in Folge mit Aktivierung behandelt.
Seit Jahrzehnten machen wir diese Behandlungen mit, bemühen uns, und erleben, dass die Behandlung im besten Fall keinen objektiven Nutzen (auf Erwerbsfähigkeit oder mittel-/langfristige Lebensqualität) hat. In vielen Fällen verschlimmern sich die Beschwerden bis hin zu
vollkommener Bettlägerigkeit und Pflegeabhängigkeit.

Diese Tatsache wird nirgends aufgezeichnet, noch werden die Behandlungen ausgewertet oder auf ihre Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit überprüft. Es ist ja nur Sport!
Meldet ein Patient einen Schaden, wird dies auf die Psyche des Einzelnen geschoben und die Therapie wird nicht in Frage gestellt.

Durch die Möglichkeit zur Vernetzung im Internet fällt den Patient*innen auf, dass es wie ihnen weltweit Zigtausenden ergangen ist.
Ebenso gibt es mittlerweile weltweit hunderte Experten, die erkannt haben, dass Aktivierung und Sport bei ME/CFS kontraindiziert ist und den Betroffenen massiv schaden kann.

Es gibt tausende Studien, die belegen, warum dies so ist und dass es körperliche Ursachen dafür gibt.
Dennoch herrscht weiter die Praxis, alle weiter mit der Standardtherapie der Aktivierung (GET) zu behandeln, und die Verantwortung für Schäden und langfristige Verschlimmerung auf das Individuum abzuwälzen.

Es gibt sogar immer noch viele Ärzte, die sich vehement
dafür einsetzen, die Stimmen und die Warnungen der geschädigten Patient*innen zu ignorieren und weiter alle mit GET behandeln zu dürfen.

Offenbar glauben sie, dass weltweit Millionen von Menschen es sinnvoll finden, sich für immer ins Bett zu legen, statt
ein erfolgreiches, erfülltes Leben zu führen, und mit aller Macht darum kämpfen, bloß nicht gesund zu werden.

Das erscheint ihnen logischer und wahrscheinlicher, als dass diese Menschen wirklich schwer krank sein könnten.
Und weil es sich bei GET nicht um ein Medikament, sondern "nur" um "Sport" handelt, ist es für sie einfach, uns als "einfach nur faul" darzustellen. So als wollten wir keinen Sport machen und würden deswegen aufbegehren.

Ich versichere, dass die meisten von uns
genau wie jeder Gesunde liebend gerne Sport machen würden, selbst wenn es keinen weiteren Nutzen für uns hätte, als das gute Körpergefühl danach. Solange wir es tun könnten, ohne uns zu schaden - und das ist eben bei ME/CFS nicht der Fall!

Es geht uns darum, andere vor
genau diesem Schaden zu bewahren und ihnen die bestmöglichen Ausgangsbedingungen zu verschaffen, um eventuell eine Remission/Heilung zu erleben oder zumindest im milden Stadium der Erkrankung zu bleiben.

Das erreicht man durch #Pacing, was Sport bei mild Betroffenen nicht
komplett ausschließen muss, aber Sport sollte nicht über der Fähigkeit stehen, sich selbst noch versorgen zu können.

Die Überbetonung von Sport in Form von GET bei ME/CFS ist absolut irrational und nach Stand der wissenschaftlichen Evidenz unhaltbar.
Dazu kommt noch eine Verhaltenstherapie, die von einem falschen, veralteten Krankheitsverständnis ausgeht und ebenfalls das Ziel hat, dass die Patient*innen aktiver werden (als ihnen guttut). Dies fördert die Zustandsverschlimmerung und das Patient Blaming noch zusätzlich.
Geschädigte Patient*innen haben es in mehrfacher Hinsicht schwer, Glauben und Unterstützung zu finden. Der Zusammenhang ist im Einzelfall schwer nachzuweisen und selbst wenn tausende die gleiche Erfahrung machen, wird dies nicht aufgenommen und berücksichtigt.
Man kann den Schaden schwer nachweisen, da die Krankheit seit Jahrzehnten massiv untererforscht ist und daher bislang keine einfachen Biomarker identifiziert wurden. Dies ist aber nicht die Schuld der Patient*innen, die sich nichts sehnlicher wünschen als seriöse Forschung!
Wenn die meisten Ärzte schon glauben, ME/CFS "gibt es nicht" oder ist harmlos/psychisch, dann wird dies von den meisten als Expertenmeinung akzeptiert und nicht weiter hinterfragt. Wenn ME/CFS so schlimm wäre, würden Ärzte das doch wissen, oder?
Von Außen muss es so aussehen, als stellten sich eine Gruppe unvernünftiger, wissenschaftsfeindlicher Patient*innen gegen die Medizin, aber die Realität ist das genaue Gegenteil. Nur, wer glaubt uns das?

Einige Ärzte bekräftigen diese Vorstellung noch,
indem sie berechtigte Kritik mit Hatespeach gleichsetzen und uns als "militante Aktivisten" verunglimpfen.

Ich bitte, sich das einmal vorzustellen: Die meisten von uns wurden durch GET oder die Aussage "du musst nur wollen" massiv geschädigt.
Viele von uns haben uns selbst jahrelang immer wieder überlastet und selbst aktiviert, bis uns klar wurde, dass es uns schadet. Meist ist man dann schon ans Bett/Haus gebunden und braucht Hilfe/Pflege von Angehörigen, ehe man sich das eingesteht.
Das liegt übrigens daran, dass vor Corona die meisten von uns keine Möglichkeit hatten, unsere Diagnose auch nur zu erahnen, und nichts von PEM und Pacing wussten.

Jetzt haben wir kaum noch Energie, aber nutzen das was uns übrig bleibt,
um andere vor diesem Schicksal zu bewahren.

Es sind ganz simple Informationen, die Betroffene schützen können: Überlastung ist kontraproduktiv und muss vermieden werden.

Wir wollen, dass diese Infos durch Ärzte den neu Erkrankten zugänglich gemacht werden.
Wir wissen besser als jeder andere, dass es für ME/CFS derzeit keine Therapie und realistisch oft gar keinen Zugang zu minimaler medizinischer Versorgung gibt. Das Leben ist einfach vorbei und keinen schert es.

Was eine Fehlbehandlung mir mit ME/CFS an Gesundheit nimmt,
ist unwiederbringlich verloren. Wer glaubt, man könne ja auf Medikamente warten, kann sich ja mal die Misere um #BC007 anschauen!

Wir wollen einfach nur, dass Patient*innen auf #PEM gescannt werden, ehe man sie GET machen lässt.
Und dann überlege man sich doch bitte mal, was wir fordern und was uns deswegen unterstellt wird!

Wir wollen, dass GET bei PEM nicht angewendet wird. Für GET gibt es trotz jahrzehntelangen Versuchen keine Beweise einer langfristigen Wirksamkeit. Auch kurz/mittelfristig
kann man keine bahnbrechende Wirkung belegen. Die Methoden der Studien sind zudem so schlecht, dass die Ergebnisse nicht vertrauenswürdig sind.

Wir haben selbst die zerstörerische Wirkung erfahren und wollen, dass andere davor geschützt werden.
Zumindest aus unserer Perspektive sollte diese Haltung doch nachvollziehbar sein!

Dann kommt noch hinzu, dass wir durch mehrere Faktoren zu einer solchen Fehlbehandlung gedrängt werden können, allen voran die sozialrechtliche Absicherung, die uns verweigert werden kann.
Eine Therapie, die uns sehr wahrscheinlich schadet und aus vergangener Erfahrung bereits schwer geschadet hat, zu der man uns erneut zwingen will, damit z.B. die Rente weiter bewilligt wird.

Gaslighting durch Ärzte, das uns unterstellt, wir wollen gerne krank sein,
sonst würden wir es doch "wenigstens mal probieren". Was wir in Wahrheit schon zigmal probiert und wegen dem Schaden sehr bereut haben.

Darauf wird nicht eingegangen und es wird als "Angst vor Betätigung" geframet.
Und jetzt soll das also genau so weitergehen, nach dem Motto "solang wir nicht sicher wissen, ob es auch wirklich jedem schwer schadet, könnte es ja einzelnen doch irgendwie nutzen".

Man stelle sich das mal bei einem Medikament vor. Ich habe ein ähnliches Argument schon
im Zusammenhang mit Glyphosat und Krebs gehört, das ist genauso absurd und menschenverachtend wie GET für ME/CFS!

Es wird nicht nur die absolute Mehrheit der Patientenschaft ignoriert, ausgeschlossen und verunglimpft ("Selbsthilfeszene").
Auch weltweite (echte!) Expert*innen mit jahrelanger/jahrzehntelanger Erfahrung im Umgang mit ME/CFS-Betroffenen werden ignoriert. In Deutschland ist das inzwischen zu einem Sonderfall geworden: Weltweit anerkannte Institutionen wie das CDC, NICE, die WHO usw.
haben ihre Empfehlungen dem Stand der Forschung angeglichen und raten ausdrücklich von GET und Aktivierung bei PEM ab!
Wir brauchen dringend Unterstützung der Solidargemeinschaft in unserer Gesellschaft, damit der öffentliche Druck auch in Deutschland endlich ein Umdenken bewirkt und schwerkranke Patient*innen nicht weiter geschädigt werden!

Ich rufe jeden auf, uns dabei zu unterstützen! ✂️
Ich fürchte, es ist doch viel zu lang und unübersichtlich geworden, aber das Thema ist einfach komplex und ich kann mich wegen ME/CFS schlecht konzentrieren.

Jetzt folgen noch die Abkürzungen und Links wie versprochen (eventuell brauche ich eine kurze Pause).
PEM = postexertionelle Malaise ("Belastungsintoleranz") mecfs.de/was-ist-me-cfs…

Pacing mecfs.de/was-ist-me-cfs…
ME/CFS - Was ist das? mecfs.de/was-ist-me-cfs/

GET = graded exercise therapy - me-pedia.org/wiki/Graded_ex…
ME/CFS hat eine der niedrigsten Lebensqualitäten von allen chronischen Krankheiten und ist nicht selten!

mecfs.de/daten-fakten/
Die Frage, ob ME/CFS körperlich und schwerwiegend ist, ist geklärt. Wer das immer noch nicht glaubt, ignoriert die Faktenlage mit tausenden Studien. Es sind hier nicht die Patient*innen, die wissenschaftsfeindlich sind.

meassociation.org.uk/research/publi…
In diesem Thread werden außerdem Studien gelistet, die die Funktionsweise von PEM beweisen und erklären:

Hier eine Stellungnahme von der @4Workwell Foundation zum Thema (aus 2018):

workwellfoundation.org/wp-content/upl…
Zusammenfassung der aktuellen NICE Leitlinie (mit Link zum vollständigen Dokument):

meassociation.org.uk/about-what-is-…
Die aktuelle Empfehlung der CDC weist ebenfalls eindeutig auf PEM hin und rät dringend gegen Aktivierung mit festen Vorgaben, die PEM ignorieren:

cdc.gov/me-cfs/treatme…
In diesem Thread wird die Empfehlung der WHO bezüglich GET bei Long Covid mit PEM (PESE) sehr gut und verständlich ausgeführt:

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May 3
#Pacing wird jetzt immer öfter auch bei #LongCovid empfohlen. Ich teile hier mal ein paar hilfreiche Links mit Ressourcen, die dabei helfen können, Pacing zu erlernen. Als erstes natürlich die sehr gute Übersicht der DG: mecfs.de/was-ist-me-cfs…

#MEAwarenessMonth
Dr. Stingl hat sehr viel Erfahrung mit ME/CFS-Betroffenen. Er hat eine Seite mit Infos zu Pacing zusammengestellt und stellt außerdem das Konzept in einem Video vor: neurostingl.at/2021/09/16/pac…

#MEAwarenessMonth
Leitfaden zur Vermeidung von Postexertioneller Malaise (Übersetzt von @CfsHilfe):

omf.ngo/wp-content/upl…

#MEAwarenessMonth
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Mar 22, 2021
@campact @LangzeitC @riffreporter Vielen Dank, dass Sie sich für die Betroffenen einsetzen. Wie Sie vielleicht wissen, ist ein Teil der Langzeit-Covid-Kranken von der schweren, postviralen Krankheit #MECFS betroffen. Menschen mit dieser Krankheit flehen seit Jahren und Jahrzehnten vergeblich darum, dass diese ->
@campact @LangzeitC @riffreporter -> Krankheit endlich in ihrer Schwere und körperlichen Bedingtheit von Ärzten und Versorgungsämtern anerkannt wird - bislang vergeblich. ME/CFS kann zu schwerster Behinderung bis hin zu vollständiger Pflegebedürftigkeit führen. Dennoch gibt es keine Unterstützung, keine ->
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