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Nov 30 24 tweets 5 min read
#MECFS ist eine schwere, körperl. Krankheit mit dem Hauptsymptom der post-exertionellen Malaise (#PEM). Allein, dass dieser Fakt anerkannt wurde, hat jahrelange beharrliche Kämpfe durch Betroffene und deren Allys gefordert. Dennoch bleibt oft unklar, was PEM genau ist.

Ein 🧵
Eigentlich könnte ich einfach den Link zur sehr guten Seite zu #PEM der @dg_mecfs posten und mir den Thread dazu sparen: mecfs.de/was-ist-me-cfs…

Während ich mich mit dem Vorbericht des IQWiG über ME/CFS befasst habe, ist mir jedoch klar geworden, dass der Begriff immer noch
oft verharmlost wird - mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Betroffenen! Denn wenn man nicht versteht, was PEM ist und welche Folgen es bei ME/CFS haben kann, kommt man automatisch zu falschen Schlüssen und kann Patient*innen massiv schaden.
Im IQWiG Vorbericht steht, dass eine PEM "Stunden, Tage und Wochen" andauern kann. Das klingt erst einmal korrekt. Dennoch ist es eine krasse Verharmlosung des möglichen Ausmaßes von PEM, da nicht erwähnt wird, dass die Schäden, die durch eine Überlastung auftreten, ebenso Die Auslöser einer PEM, ihr Beginn und ihre Dauer sind indi
dauerhaft sein können.

Was wie Haarspalterei klingen mag, hat für die Betroffenen reale, unvorstellbar grausame Folgen:

Egal, wie schlimm ein "Crash" (PEM) ist, wenn er nach spätestens einigen Wochen garantiert vorbei wäre, gäbe es keinen Grund, so streng darauf zu achten,
dass Betroffene wirklich jede PEM vermeiden. Wir müssten dann auch nicht so energisch gegen Therapievorschläge mit Aktivierung ("GET") ankämpfen, da wir uns ja immer wieder vollständig erholen würden.

So funktioniert der Krankheitsmechanismus von ME/CFS aber leider nicht!
Es ist in gewisser Weise nachvollziehbar, dass das IQWiG weiterhin Aktivierung empfehlen möchte, da es offenbar das Wesen von #PEM bei ME/CFS noch immer nicht begriffen hat.

Wenn man glaubt, dass ein Crash zwar unangenehm ist und einen ein paar Tage bis Wochen stark behindert,
aber jedes Mal vollständig wieder weg geht, dann ärgert man sich vielleicht über Patient*innen, die sich stur weigern, eine Überlastung zu riskieren. Dann kann man den Patient*innen auch dysfunktionale Verhaltens- oder Gedankenmuster unterstellen, wie im Vorbericht zumindest Die kognitive Verhaltenstherapie ist eine oft angewendete Fo
angedeutet. Auf was soll sich dieser Absatz bei ME/CFS denn sonst beziehen? Mein Gedanke ist, dass eine Überlastung mich schwer krank (kränker) macht, mein Verhalten ist demnach, diese zu vermeiden.

Glaubte man, dass PEM harmlos sei, wäre diese Denkweise schädlich.
PEM ist aber nicht harmlos. Ich möchte es so klar wie möglich ausdrücken:

Wenn Behandelnde PEM bei ME/CFS nicht ernst nehmen und deren Vermeidung nicht immer als oberste Maxime jeder Therapie behandeln, riskieren sie schwere Behandlungsfehler mit katastrophalen Folgen:
Da es keinerlei kurative Behandlung von ME/CFS gibt und Linderung ebenfalls nur begrenzt möglich ist, bedeutet die Chronifizierung eines PEM-Schubs, dass der Verlust an gesundheitsbezogener Lebensqualität und Funktionalität dauerhaft ist. Einfacher: Was weg ist, bleibt weg.
Konkret kann das bedeuten, dass ein Patient endgültig die Arbeitsfähigkeit verliert, die vorher noch vorhanden war. Oder in schwereren Stadien, dass Einschränkungen des Alltags sich verschärfen: Man konnte bisher noch alleine zur Toilette gehen, aber nach einem Crash verliert man
die Fähigkeit, das Bett überhaupt noch zu verlassen. Oder man konnte noch 1-2 Stunden am Tag im Bett aufgestützt sitzen, aber nach einem Crash muss man nunmehr 24 Stunden am Tag komplett flach liegen. Oder man verliert die Fähigkeit, zu sprechen oder eigenständig zu essen.
Es können auch neue, qualvolle Symptome dazu kommen oder sich verschärfen, wie Migräne, Schlafstörungen und starke Schmerzen im ganzen Körper, Muskeln, Knochen, Nerven. Selbst dafür lindernde Medikamente oder gar einen Hausbesuch zu bekommen, ist derzeit oft gar nicht möglich,
da Ärzt*innen die Krankheit nicht kennen oder akzeptieren, und daher keine Versorgung leisten.

Nicht jeder Crash führt zu einer permanenten Verschlimmerung. Crashs sind für die Betroffenen unberechenbar: Ein Crash kann tatsächlich nach wenigen Tagen bis Wochen wieder weggehen.
Das kann viele Male immer wieder gut gehen, und dann kommt ein Crash, der sich vielleicht zunächst durch nichts von den Vorherigen unterscheidet, und dieses eine Mal bleibt dennoch eine permanente Verschlimmerung.
Es ist wie ein Lottospiel, und jeder Crash ist ein Los, das man dafür kauft. Bei jedem Crash bangen Betroffene, ob die Verschlimmerung wieder weggeht, oder ob etwas davon zurückbleibt. Eine Verschlimmerung kann komplett verschwinden, teilweise besser werden oder dauerhaft sein.
Was davon man erwischt, weiß man erst hinterher – dass es permanent geworden ist, muss man sich nach einigen Wochen bis Monaten irgendwann eingestehen, wenn es einfach nicht wieder besser wird.
Man kann sich kaum vorstellen, was es für einen schwerkranken Menschen bedeutet, der bereits so viel verloren hat – Erwerbsfähigkeit, Hobbies, Sozialleben, Eigenständigkeit – wenn man von dem wenigen, was bleibt, weitere Teile verliert, und nie weiß, ob man sie je wiederbekommt.
Menschen mit ME/CFS werden früher oder später diese Realität von allein begreifen, auch wenn das IQWiG diese nicht anerkennt. Der Unterschied ist: Wenn man zu Beginn der Erkrankung oder bei Verdacht auf ME/CFS bereits diese Tatsache erfährt und dementsprechend
das Vermeiden von Crashs als oberste Priorität bei ME/CFS versteht, hat man eine ungleich höhere Chance, dass man das Fortschreiten der Erkrankung bremsen und möglicherweise den eigenen Grundzustand stabilisieren oder sogar eine vollständige Remission erleben kann.
Derzeit besteht ein Kampf derjenigen, die aus eigenem Schaden die bittere Wahrheit erfahren haben, gegen Gesundheitsinstitute wie das IQWiG, die das Ausmaß von PEM immer noch nicht wahrhaben und schädliche Therapien weiter anbieten wollen.
Die uns lapidar entgegnen "wir zwingen ja keinen dazu!". Wo wir ganz deutlich sehen, dass sie die PEM zugrundeliegenden Mechanismen nicht kennen oder verstehen, und denen wir nicht vertrauen können, Patient*innen zu warnen oder zu schützen, bevor sie ihnen Aktivierung anbieten.
Neuerkrankte werden daher weiterhin im guten Glauben, etwas für ihre Genesung zu tun, sich bei schädigenden Therapien anstrengen, nur um ggf. mit irreversiblen Schäden am Ende allein und ohne Versorgung zu Hause sitzen gelassen zu werden.

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