In der Diskussion über den rassistischen Terroranschlag in #Hanau steht aktuell die psychische Verfasstheit des Täters oft im Fokus der Debatte. Viel wird darüber gesprochen, dass er paranoid gewesen sei und Wahnvorstellungen gehabt hätte. [Thread]
Die Grundlage für diese Einschätzung stellt dabei maßgeblich sein 24-Seitiges „Skript“ sowie wenige andere vom Täter verfasste Quellen dar. In der Psychologie gelten Ferndiagnosen als unethisch. Festgehalten haben das die großen psycholog. Verbände in der sog.Goldwater-Regel.
Bereits 1973 urteilte die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft, dass es unethisch sei, „dass ein Psychiater eine fachliche Meinung abgibt, wenn er nicht eine Untersuchung durchgeführt und eine ordnungsgemäße Genehmigung für eine solche Aussage erhalten hat“.
Nun ist es nicht immer möglich Täter zu untersuchen. Weil sie sich nach ihrer Tat umgebracht haben oder sich nicht vor einem Gutachter äußern wollen – wie beispielsweise beim NSU-Prozess Beate Zschäpe, die sich weigerte mit dem eingestellten Gutachter Henning Saß zu sprechen.
Die Einsichten, die man so erhält, sind meistens eher gering, will man nicht in Spekulationen verfallen. Für eine psychiatrische Begutachtung werden lange Gespräche geführt, Dokumente ausgewertet und psychologische Tests durchgeführt bis man zu einem validen Urteil kommen kann.
Bei dem Täter aus Hanau ist die Quellenlage noch verkürzter. Es liegen nur selbstverfasste Texte und Videos vor. Quellen, die er gezielt nutzen wollte, um seine Botschaften zu verbreiten. Er schrieb davon, dass er „die notwendige Aufmerksamkeit“ erlangen wollte.
Diese Texte und Videos sind also als politische Propaganda zu bewerten. Wer versucht rein auf dieser Basis ein psychologisches Profil zu erstellen, muss das immer mitdenken. Man erfährt hier nur, was man erfahren soll. Diese Texte verfolgen ein Ziel.
Ob die beschriebenen wahnhaften Episoden wirklich so stattgefunden haben, ist reine Spekulation. Vllt. plante der Täter absichtlich solche Texte um im Falle einer Verhaftung als schuldunfähig zu gelten. Vllt. beschreiben sie aber auch sein wahres Erleben. Wir wissen es nicht.
Was allerdings keine Spekulation ist, sind die Motive hinter dem Terroranschlag. Rassismus trifft auf Verschwörungsdenken und vermischt sich mit Sexismus. Ein Weltbild, dass nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext existiert.
Der Ablauf der Tat, die Rhetorik und die Verbreitung durch Videos und „Manifeste“ fügen sich in ein Muster ein, welches der Logik der rechtsextremen Terroranschläge der letzten Jahre folgt.
Dadurch, dass das Video in englischer Sprache gehalten ist, kann man davon ausgehen, dass eine internationale Zuschauerschaft adressiert werden sollte. Auch hier sieht man Parallelen zu anderen Terroranschlägen der letzten Zeit.
Selbst wenn der Täter psychisch krank gewesen ist, war er in der Lage, seine Tat zu planen. Es war keine unüberlegte Handlung, sondern letzte Konsequenz seines rassistischen Weltbildes. Die Debatte um Hanau darf daher nicht in Pathologisierungen und Fixierung auf den Täter enden.
Deutschland hat ein Rechtsextremismus- & Terrorismusproblem, dass durch eine Verschiebung von Diskursen, fehlenden Positionierungen & Ignoranz weiter gefüttert wird. Es braucht gesellschaftliche, mediale und staatliche Antworten auf und klare Positionen gegen diese Entwicklungen.
Es braucht echte Solidarität mit den Opfern von Rassismus und Antisemitismus, die über reine Betroffenheitsbekundungen hinaus geht. Es braucht eine solide finanzielle Basis für zivilgesellschaftliche Initiativen und Opferberatungen.
Es braucht Schutz der Opfer von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Es braucht Schutz derer, die sich gegen den Hass stellen. Es braucht eine klare Positionierung gegen die AfD und ihre Netzwerke
Es braucht Medien, die nicht rechte Kampfbegriffe übernehmen und Rassisten eine Plattform geben. Es braucht eine engagierte Gesellschaft, die Menschenfeindlichkeit die Stirn bietet – egal wo sie auftaucht. Es muss gehandelt werden. Und zwar jetzt.

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