Ich sehe jetzt schon Anzeichen, dass sich zu #Corona wieder eine revisionistische Erzählung etablieren könnte, wie 2015 ("Medien und Politik haben alles nur beklatscht") und 2016 ("niemand hat Trump ernst genommen, 'wir' sind schuld an Trump"). Ich rechne jedenfalls damit. /1
Die ginge dann jetzt so: Hätte man früher auf die Kritiker_innen gehört, hätte sich Verschwörungsideologen nicht ausbreiten können. Es wäre das gleiche Muster: Radikalisierung als angebliche Folge davon, dass Anliegen nicht ernst genommen wurden. /2
Nur wäre es wieder nicht wahr. Es ist nicht so, als wären keine abweichenden Positionen vertreten worden - es wurden und werden nur nicht genau die Positionen vertreten, die jetzt maßgeblich auf den Anti-Corona-Demos vertreten werden (weil sie weitgehend Bogus sind). /3
Es stimmt nicht, dass alle immer für massive Einschränkungen waren. Die meisten waren lange dagegen, bis Mitte März, als sich das Virus schon schnell verbreitet hatte. In Berlin sollte noch ein Fußballspiel stattfinden. Es gab auch längst keine maximalen Einschränkungen. /4
Es stimmt, dass es dann eine kurze Phase von zwei, vielleicht drei Wochen gab, als die Politik sich auf Notfallmaßnahmen einigen musste, in der Opposition wenig Widerspruch übte (auch die FDP). Weil es auch keine vernünftigen, gut begründeten Gegenvorschläge gab. /5
Es stimmt nicht, dass im April Kritik und Zweifel nicht zugelassen waren. Die meisten zweifelten und viele sagten das auch. Inklusive Merkel. Man wusste wenig. Es stimmt nicht, dass Einigkeit herrschte. Es wurden zahlreiche Vorschläge oder Kritiken an der Politik formuliert. /6
Aber selten systematisch und konkret. Als die FDP von angeblichen "Maulkörben" redete, also andeutete, man dürfe keine anderen Positionen äußern, hatte sie nie versucht, eine konkrete umsetzbare andere Politik durchzusetzen - auch dort, wo sie mitregiert. /7
Tatsächlich gab es dann ja aber Verfechter von weniger und mehr (u.a. das FDP-regierte NRW mit Laschet) Lockerungen und durchgesetzt haben sich eher diejenigen, die schneller und mehr lockern wollten als die Verfechter von Suppression. /8
Es gab also a) lange keine Einschränkungen, b) keine radikalen, dann c) wurde Widerspruch geübt und jetzt haben wir d) weniger Einschränkungen als eine der drei "Schulen" (Suppression - Einhegen bei R ~ 1 - Durchseuchung) gut findet. Und die Diskussion geht zu Recht weiter. /9
Das heißt alles nicht, dass die Reaktionen richtig waren, vielleicht kamen sie verspätet, vielleicht gingen sie zu weit, vielleicht wäre anderes möglich gewesen. Aber: Es gab natürlich Zweifel, Kritik und Diskussion, so weit es halbwegs konstruktive Vorschläge gab. /10
Keine Ahnung, woher genau diese Idee ihren Reiz gewinnt, Radikalisierung entstehe immer daraus, dass sinnvolle Kritik und Sorgen nicht gehört worden wären, aber sie war 2015 falsch, sie war 2016 falsch und, für den Fall, dass sie sich verbreitet: Sie ist jetzt falsch. /11
