WAHLEN in AMERIKA!
Heute einige Tweets zu einem Phänomen, über das Europa schon immer gestaunt und sich gewundert hat.
Und zwar aus historischer Perspektive mit dem Schwerpunkt im 19. Jahrhundert.
„County Elections“ von George C. Bingham (1852) ist wohl die bekannteste Darstellung. Es sieht alles ganz harmlos aus. Aber wer genau schaut, sieht die Verletzten, die Korruption, die „Wahlschlepperei“, den Alkohol - und bemerkt die Abwesenheit von Frauen und Afroamerikanern.
Mit der Ausbreitung des Massenwahlrechts in den USA (seit den 1820ern, verstärkt seit den 40ern) nahm die Gewalt massiv zu. Wahlen entwickelten sich zu einem „manly sport“, so der Historiker David Grimsted - ein Fest für junge weiße Männer, die sauften, sich prügelten, wetteten.
Gewalt konnte bizarre Formen annehmen: Männer kidnappten andere, sperrten sie ein & zwangen sie, in verschiedenen Wahllokalen für ihre Partei zu stimmen. Gefängniswärter luden zuweilen die Insassen auf einen Karren u fuhren zum Abstimmen von Wahllokal zu Wahllokal.
(Ballot 1870)
Gekidnappt wurden auch Urnen, falls das Wahlergebnis bedenklich aussah, oft wurden Urnen zuvor mit erwünschten Stimmzetteln gefüllt - oft mit Hilfe eines doppelten Bodens. Daher wurden gegen Ende des Jahrhunderts gläserne Urnen so wichtig. #USElections2020
(1856 + 1870)
In den 1850ern schleppte die Partei der xenophoben Know-Nothings eine Kanone an, so der Historiker Manfred Berg; mehrere Personen wurden getötet u weit über 100 verletzt. (Stimmzettel: Know Nothings. Parteien druckten die Zettel selbst u konnten so erkennen, wer für sie stimmte)
Die fremdenfeindlichen Know-Nothings sperrten gerne Immigranten ein, um sie am Wahltag zu zwingen, den Stimmzettel für ihre Partei abzugeben. Der schwache Rechtsstaat und die zuweilen kaum vorhandene Bürokratie waren gegen die Gewalt oft machtlos. #USElections2020 (1846)
Das Glücksspiel wurde zum Synonym für Politik. Wetten wurden (wie Alkohol) regelmäßig & vergeblich verboten. „Some here are sadly disappointed“, schrieb 1844 eine NewYorkerin über die Präsidentschaftswahlen, „and that with reason, as they had staked all in betting“. (1856)
„Free elections!“, bedeuteten im 19. Jh. vor allem: Wahlen frei von Regeln. Wenn die Macht vom Volke ausgeht – was lag näher, als dass es auch die Gewalt ausübt? Oft gewann die Partei mit den stärksten Männern am Wahllokal.
Zur Gewalt in der USPolitik die Forschung von Freeman:
Männlich konnotierte Praktiken von Gewalt, Alkohol, der Faust des Stärkeren: Demokratie gewann durch Verbindung mit Männlichkeit an Legitimität. Gisela Bock spricht von der „expliziten Maskulinisierung der politischen Partizipation“ im 19. u. frühen 20. Jahrhundert.
(Ballot 1856)
Das Wahlrecht der Afroamerikaner, das Verfassungszusätze schützen sollten, rief seit den 1870ern ein neues Ausmaß an Gewalt hervor - nachdem es zuvor nur durch den erneuten Einmarsch von föderalen Truppen in die Südstaaten installiert werden konnte.
(Wahlen auch für „Colored“)
Bevor die schwarzen Amerikaner wieder weitgehend von der Wahlurne vertrieben wurden, zwangen „Democrats“ sie häufig, für ihre rassistische Partei abzustimmen.
(Kritische Darstellung aus dem Norden bzw. New York City: Harper’s Weekly, 1876)
Wahlen konnten von Rassisten aber auch so arrangiert werden, dass der Weg zur Wahlurne im Wahllokal so gefährlich war (wie hier von einem Republican 1883 zur Untersuchung der Wahl festgehalten), dass sie Afroamerikaner erst gar nicht wählen trauten.
Im 19. Jh. hielt sich der Preis für den Kauf 1 Stimme über viele Jahrzehnte recht konstant bei 1 Dollar.
(Über US-Wahlen in der Mitte des 19. Jhs gibt es dieses großartige Buch von Richard Bensel.)
Und in Europa sah man oft auf die amerikanischen Wahlen hinab. Hier vergleichen sich die ordentlichen Deutschen mit den gewalttätigen Amerikanern (und verrückten Briten).
(Kladderadatsch 1867)
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Da das Stimmenzählen nicht endet: Hier ein historischer Thread zum Thema.
In der großen Reformzeit um 1900 wurden die Ermittlung des Wahlergebnisses zu einer Demonstration moderner Zeiten und nationaler Potenz.
(Es sollte nicht mehr so ablaufen wie hier in South Carolina 1826)
Bis in die 2. Hälfte des 19. Jhs konnte sich das Auszählen über mehrere Tage hinziehen. 1849 hatte der Magistrat von Berlin drei Tage nach den Wahlen von den 626 Wahlbezirken 155 ermittelt. Bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 1848 dauerte die Auszählung eine Woche.
Dann kam die Telegraphie. Da sich die Wahlergebnisse in Zahlen fassen ließen, erwiesen sie sich als ideale Nachricht für den Zeitungsmarkt. Der stellte seine Meldungen wegen der Telegraphie auf Telegrammstil um– news statt views (wie die Kommunikationswissenschaft das beschreibt)
Letzte Arbeiten an dem Vortrag heute Abend.
Historisches Wörterbuch d Philosophie, „Nation, Nationalismus“: „Der Begriff ist nur selten eindeutig und ausdrücklich definiert; seine Bedeutung ist häufig schillernd“.
Eine historisch angemessen komplexe Definition!
Johann Georg Zimmermann,1783: „Nationalstolz“, das "Bewußtseyn des wahren Wertes seiner Nation“, sei „eine politische Tugend von grosser Wichtigkeit“, müsse aber immer zu "edlen Handlungen“ forciert werden, um nicht in feindselige Vorurteile gegenüber anderen Nationen abzugleiten
Rousseau greift als einer der ersten den Begriff im modernen politischen Sinn auf und spricht vom „Corps de Nation“, in dem alle Staatsbürger gleich seien.
Egal ob ob wir seine Verfechter oder Verächterinnen sind: Warum ist der Kapitalismus so unfassbar erfolgreich? Die Antwort ist natürlich zu schwierig für Twitter. Aber ein Blick auf die Zeit des Kaiserreichs, als er so richtig abhob, hilft vielleicht weiter.
So wie die Plausibilisierung des Gleichheitsgedankens nicht ohne Nation möglich gewesen wäre (Dieter Langewiesche bezeichnet Nation als "Gleichheitsvehikel“), so hätte die Massenpolitisierung ohne den Kapitalismus und seine Auswirkungen kaum stattfinden können.
Der Kapitalismus riss die Grundfesten der Gesellschaft ein, nichts im Leben der Menschen ließ er unberührt. Er zerstörte die alten Werte und Hierarchien, bot den Nährboden für brutale Ausbeutung. Und die Ungleichheit stieg in nicht gekannte Höhen. Aber das war nur die eine Seite.
Das moralische Entsetzen gegenüber der Geschichte erscheint mir für den Nationalsozialismus angemessen, ja gar nicht anders möglich. Er war der Bruch mit aller Menschlichkeit & Zivilisation. Aber als Historikerin diese Haltung auf den Rest der Geschichte auszudehnen? 1/x
(Es geht in diesem Thread nicht darum, jemandem „Säuberungen“ u. ä. vorzuwerfen, denn die Diskussion um Straßennamen, Denkmäler etc. ist so wichtig. Es geht mir darum: Wie sinnvoll ist es, normative Fragen in der Geschichte grundsätzlich in den Vordergrund zu stellen.)
Eine Person, die Geschichte v. a. unter dem Gesichtspunkt der eigenen moralischen Haltung beurteilt, verfehlt sie nicht zumindest als Historiker/in etwas Entscheidendes: die Einsicht, dass Menschen in anderen Zeiten anders getickt haben - und die interessante Frage, wie das kam?
Thread.
Weil es hier einige kluge Leute gibt, denen Quote & Gleichstellung merkwürdig erscheinen (HABEN WIR JETZT NIX BESSERES ZU TUN 😤), hier eine Erläuterung.
Anlass ist nicht zuletzt der viel diskutierte Artikel von @jana_hensel: 1/ zeit.de/gesellschaft/z…… via @zeitonline
2/ Hauptargument gegen die Quote ist (soweit ich sehe), dass man a) objektiv über Qualität urteilen kann & daher b) Geschlecht keine Rolle spielen darf. Es ist die Annahme, dass wir unabhängig von allem - von Geschichte, Erfahrung, Strukturen etc. - denken.
Seriously?
3/
Émile Durkheim (1858-1917), einer der 1. Soziologen, kam in seinen Studien zu einem verblüffenden Ergebnis: Eine der intimsten, individuellsten Handlungen ist stark von gesellschaftl Zusammenhängen abhängig: der Selbstmord (portal.dnb.de/opac.htm?metho……).
Aus welcher Zeit stammt eigentlich unser medizinisches System? Die Autorität der Medizinerinnen und Mediziner? Entscheidende wissenschaftliche Grundlagen?
Thread
Wie so vieles, was unsere Welt prägt, stammt es aus dem Kaiserreich. Medizinische Berufe professionalisierten sich (Männer=Ärzte= Studium= absolute Autorität // Frauen= Schwestern/Hebammen etc.-> ohne Studium).
Die Vorstellung, dass ALLE (auch die Menschen auf dem Land) Anspruch auf ein potentes Gesundheitssystem haben: Kaiserreich-Idee. Gab es 1887 15.824 Krankenhäuser, so waren es vor dem Weltkrieg über 30.000.
(Charité Anfang 20. Jhs)