Die erste Regel im Electoral Vote Club lautet: KEINE PANIK! Die zweite Regel im Electoral Vote Club lautet: DON’T PANIC! Deshalb ein schneller (nicht kurzer, sorry) Thread zur Panikvermeidung mit einigen Handreichungen für die heutige Wahlnacht in den USA.
Die dritte Regel im Electoral Vote Club lautet: Es kann im Laufe einer Wahlnacht durchaus gute Gründe für Besorgnis und auch Panik geben. Remember 2016? Wichtig ist nur, dass man in den richtigen Momenten in Panik gerät und in den anderen nicht. Und vor allem nicht zu früh. Okay?
Eine Wahlnacht produziert einen Haufen Daten. Viele davon sind Noise. Andere erwecken, wenn man sie isoliert betrachtet, falsche Eindrücke. Indikation ist keine Evidenz!Wir lassen uns davon nicht beeindrucken. Panik ist unser Feind. Die Nacht wird auch so schon schlimm genug.
ERSTENS: DER ELECTORAL VOTE COUNT. Wie wir alle wissen, können nationale Umfragen und das Popular Vote interessante Indikatoren sein, aber verlässlichen Aufschluss auf das Wahlergebnis liefert nur der Blick auf die Electoral Votes (also auf die Ergebnisse der Einzelstaaten).
Doch der Blick auf den EV Count ist gerade am Anfang des Abends tückisch. Wenn die Fernsehsender nach 01:00 Uhr CET damit beginnen, die ersten Bundesstaaten zu «callen», wird Trump mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der ersten Stunde erstmal kräftig davonziehen.
Das hat aber noch nicht viel mit dem späteren Wahlausgang zu tun, sondern mehr mit verschiedenen Zeitzonen und Schließungszeiten der Wahllokale in Verbindung mit der geographischen Verteilung bestimmter «sicherer» und schneller auszuzählender Staaten. Also: Keine Panik.
Die Auszählung schiebt sich langsam von der Ostküste hinüber zur Westküste. Egal, wie weit Trump zunächst vorne liegt: In ein paar Stunden kommt immer noch die mächtige Westschiene mit 77 todsicheren EVs für Biden in Kalifornien, Oregon, Washington und Hawaii. Also: Keine Panik.
Irgendwann nach 02:00 CET dürfte Biden dann auf- und überholen und für eine Weile die Führung im EV-Count behaupten. Das wird beruhigend aussehen, ist aber aus den gleichen Gründen ebenfalls noch wenig aussagekräftig. Noch ist alles eingepreist, noch gibt es keine Überraschungen.
Gegen 03:00 CET könnte Trump wieder knapp nach vorne springen, weil weitere Südstaaten und die Mountain States hinzukommen. Aber da Texas diesmal knapper werden wird als sonst, wird der Abend von hier an langsam schwer zu kalkulieren. Wie auch immer: Keine Panik.
Die Ergebnisse aus den Swing States, in denen die Wahl entscheiden wird, kommen erst später. Logisch: Schwingstaaten sind Schwingstaaten, weil ihr Ausgang knapp wird. Je knapper der Ausgang, desto länger muss man zählen, bis man ausreichende Gewissheit über die Gewinner hat.
Wann die entscheidenden Ergebnisse aus den Swing States kommen, ist in diesem Jahr noch schwerer vorherzusehen als bei früheren Wahlen. Die enorme Wahlbeteiligung bei der Briefwahl vor dem Wahltag ist eine Herausforderung für die Auszählungsinfrastruktur am und nach dem Wahltag.
Florida, Georgia, Arizona und North Carolina zählen bereits aus, und da ein Großteil der Stimmen bereits vorab abgegeben wurde, könnten Ergebnisse hier eventuell sogar früher kommen als gewohnt. Andererseits: Es wird, vor allem in FL und NC, superknapp, also: Jetzt kein Übermut!
Andere Staaten dürfen erst am Wahltag (oder Vortag) damit beginnen, die Umschläge zu öffnen. In welcher Reihenfolge die Stimmen ausgezählt werden, ist ebenfalls nicht einheitlich. Eine gute Übersicht über die Regularien gibt es immer in der NYT: nytimes.com/interactive/20…
Von dem befürchteten Chaos, das in den Wahllokalen oder drumherum von Milizen, MAGAniacs und Anwält:innen entfacht werden könnte, ganz zu schweigen. Es gibt keine Erfahrungswerte für eine Wahl wie diese. Es hilft nur warten. Und: Keine Panik. Jedenfalls nicht zu früh, right?
ZWEITENS: DER BLICK IN DIE STAATEN. Wir wollen bei einigen Staaten nicht darauf warten, bis die Networks einen Sieger ausrufen, also schauen wir uns dort schon während des Auszählungsverlaufs die Tendenzen an. John King mit seiner Magic Wall macht schließlich auch nichts anderes.
Nicht nur die Wahlausgänge selbst sind interessant, sondern auch die Frage, wie schnell Staaten von den Sendern als entschieden ausgerufen werden. Je klarer der Ausgang, desto schneller der Call. Die Margins wiederum lassen Tendenzaussagen zu, wie wir andere Staaten lesen können.
Virginia ist ein Beispiel, das ich gern verwende. Der Staat ist kein Swing State, er wird mit Sicherheit an Biden gehen. Am Anfang wird allerdings Trump vorne liegen, weil die ländlichen Bezirke dort für gewöhnlich schneller auszählen als die Städte. Keine Panik: So ist es immer.
Wie lange es dauert, bis Biden die Führung übernimmt, ist allerdings ein guter Frühwarn-Indikator für die Gesamtstimmung. Dafür, ob es etwa eine Entkopplung gibt zwischen dem Wähler:innenverhalten, Turnout und den Umfragen, an die wir uns in den letzten Wochen geklammert haben.
Das habe ich 2016 übrigens auch gesagt. Und dann wurde es eine zähe Angelegenheit. Bis Virginia endlich für Clinton ausgerufen wurde, hatte es ewig gedauert. Das hatte mich beunruhigt, aber dass das ein Menetekel für die ganze Wahlnacht sein könnte, begriff ich erst viel später.
Auch unter den Swing States gibt es Staaten, die uns zunächst in falsche Sicherheit oder Unsicherheit wiegen könnten, weil sich im Verlauf der Auszählung die Gewichte zwischen den Kandidaten voraussichtlich verschieben und frühe Vorsprünge sich relativieren werden.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Wisconsin, Pennsylvania, aber auch Michigan und Minnesota zu Beginn der Auszählung stärker in Richtung Trump tendieren werden als am Ende, dass sich die Gewichte im Verlauf der Nacht also in Richtung Biden verschieben. Also: (Erst mal) keine Panik.
Zugleich gibt es Anzeichen für einen gegenläufigen Effekt in Florida und North Carolina, aber auch in Ohio, Iowa und Texas. Hier könnte es zunächst überzeichnete Biden-Zahlen geben, die dann aber im Verlauf der Nacht abschmelzen dürften. Wenn das passiert: (Vorerst) keine Panik.
(Andererseits: Sollten Ohio oder North Carolina oder Florida bereits relativ früh gecallt werden, könnte dies in Indikator für einen Biden-Erdrutsch im ganzen Land sein. Blue Wave! Dann kann man fast schon ins Bett gehen. Aber falls nicht: Keine Panik. Nicht gierig werden!)
An welche Kandidaten welche Swing States letztlich gehen werden, darüber wird es voraussichtlich erst spät in der Nacht verlässliche Indikationen geben. Und deshalb noch einmal: Nicht zu früh in Panik geraten! (Aber auch nicht zu spät, falls es doch in die Hose geht… 🤡)
Nicht alle Zahlen sind das, wonach sie zunächst aussehen. Numbers are always moving until they aren’t. Wie fallende Blätter im Herbstwind treiben sie mal hierhin, mal dorthin, bevor sie sich schließlich irgendwo settlen.
DRITTENS: DER BLICK AUF EINZELNE DISTRICTS. Manche Wahlbezirke in bestimmten Swing States taugen als Frühwarn-Indikatoren. Wer also doch in Panik geraten (oder sich selbst beruhigen) möchte, kann die ganze Nacht auf solche «Bellweather Counties» starren.
Eine schöne Handreichung (die ich auch verwenden werde) ist beispielsweise diese Liste von Dave Wassermann (@redistrict) vom Cook Political Report: nytimes.com/2020/10/06/opi…
(Ich habe mir eine eigene Liste erstellt, aber die ist so ausgeufert, dass sie nicht mehr handhabbar ist. Aber man kann sich immer von John King auf CNN oder Steve Kornacki auf NBC an die Hand nehmen lassen, die einen exzellenten Blick auf die Tiefenstruktur des Rennens geben.)
VIERTENS: Nicht von Medien verrückt machen lassen! Sie vermischen valide Informationen mit dem billigsten und schnellsten Content: Spekulationen. Nicht alles, was CNN mit krachenden Soundeffekten als KEY RACE ALERT ausruft, ist key. Keine Panik, auch wenn’s laut wird.
FÜNFTENS: Bis hierhin haben wir nur über das Präsidentschaftsrennen geredet. GENAU! SO! WICHTIG! ist der Senat! Ohne eine demokratische Senatsmehrheit werden Biden/Harris nicht viel bewegen können. Eine republikanische Mehrheit hieße Totalblockade und Dauerwahlkampf ab Day 1.
Einen Senatssitz werden die Demokraten wahrscheinlich verlieren, vier müssten sie also hinzugewinnen, um ein Patt herzustellen (bei dem der Vizepräsidentin die entscheidende Stimme zukäme), fünf Flips bedeuten eine Mehrheit. Das ist nicht sicher, aber auch nicht unrealistisch.
Das Repräsentantenhaus: Die Mehrheit, die die Demokraten vor zwei Jahren zurückerobert haben, dürfte sich leicht ausweiten. Aber wenn unser Fokus für die Wahlnacht die Zurückschlagung des Trumpismus ist, bringt uns der Blick aufs House keine neuen Perspektiven.
Viel wichtiger deshalb: Die Bundesstaaten-Parlamente («state legislatures»). Hier müssen die Demokraten deutlich zulegen, wenn sie Gerrymandering und Voter Suppression zu ihren Ungunsten zurückdrängen wollen. Eine gute Übersicht gibt es hier: fivethirtyeight.com/features/contr…
Kommen wir zum Ende (yay!): Alle diese Ausführungen gehen natürlich von der Fiktion eines einigermaßen regulären Wahlverlaufs aus, innerhalb dessen halbwegs vernünftig gewählt und gezählt werden kann und schließlich die EVs zugeordnet werden, wie man es gewohnt ist.
Inwieweit wir uns in diesem Jahr darauf verlassen können, dass diese gewohnten Rahmenbedingungen halbwegs Bestand haben werden, lässt sich kaum prognostizieren. Hierzu haben wir keine Erfahrungswerte. Wir werden sehen. Ich wünsche eine gute Nacht. Und vor allem: KEINE PANIK!

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1 Nov
Einige nächtliche persönliche Gedanken über die US-Wahlen am Dienstag, bei denen sich nicht nur die nähere Zukunft der USA entscheidet, sondern auch die Frage, ob sich das Gift des Trumpismus immer weiter in die demokratischen Gesellschaften frisst. Ein Thread mit Überlänge. ⬇️
(Na, das hat Ihnen gerade noch gefehlt! Noch so eine oberschenkellange Predigt über die Wahlen ausgerechnet von dem Typen, der schon 2016 erklären konnte, warum Hillary Clinton gar nicht verlieren kann? Tja, aber warum soll es für Sie weniger quälend sein als für mich?)
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20 Jul
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20 Apr
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[Langthread, sorry]
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28 Oct 19
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10 Oct 19
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