Thread by @pavel23

Hörte gerade, dass nicht wenige Professoren an Berliner Hochschulen derzeit auf Präsenzprüfungen bestehen, so lange es erlaubt ist, und weil nicht richtig gezählt wird, bleibt es erst mal auch erlaubt. Ist nur ein kleines Beispiel dafür, warum sich trotz Lockdown Leute anstecken.

Wir müssen länger im Lockdown bleiben, weil manchen Professoren Online-Prüfungen zu umständlich sind. Die im Übrigen so funktionieren, dass die Studenten die Klausur zu Hause ausdrucken, auf Papier schreiben, einscannen, hochladen und das Original per Post an den Prof schicken.

Ich hatte bei Online-Prüfungen ja an irgendein Online-System gedacht, aber in Wirklichkeit würde als technische Voraussetzung ein Faxgerät ausreichen. Können wir vielleicht mit der Lüge aufhören, wir wären exzellenter Forschungs-, Wissenschafts- und Technologiestandort?

Der Wahrheit ins Auge sehen, dass Hochschulen massiv unterfinanziert sind, viele Professoren demotiviert und desillusioniert und alles andere als exzellent sind? - bis auf eine Disziplin:

Delegationen aus anderen Ländern kommen her, um sich anzuschauen, wie man für ein Zehntel des Geldes, das es anderswo kostet, Hochschulen betreiben kann. Darin sind wir wohl ganz gut. US-Elitehochschulen geben bis zu hundert (!) mal so viel Geld pro Studenten aus wie wir.

Da braucht man sich dann nicht wirklich über irgendetwas zu wundern - außer vielleicht, dass es überhaupt irgendwie funktioniert bei uns. Ja, ich finde es gut, dass bei uns der Staat Hochschulen finanziert, aber das Ergebnis ist teilweise ziemlich erbärmlich.

Nicht, dass das jetzt direkt mit der Pandemie zu hätte, aber die Pandemie legt halt die Mißstände in vielen Bereichen offen, von der Fleischproduktion über Schulen, Gesundheitswesen, Politik und Verwaltung - überall zeigen sich die Schwächen bei Organisation und Technologie.

Zusammenbrechende Lernplattformen im 10. Monat der Pandemie, Unfähigkeit, ausreichend zu testen und zu sequenzieren, Versorgungsengpässe bei Masken und Politiker, die beklagen, hätte man sie doch rechtzeitig gewarnt.

Nein, es ist nicht alles schlecht bei uns, es gibt vieles, auf dass man stolz sein kann in Deutschland, aber Pandemiebekämpfung gehört definitiv nicht dazu. Da sind wir im globalen Vergleich zweite oder dritte Liga, und so manches Entwicklungsland macht es besser.

Ich frage mich, ob das ist, was wir sein wollen, und das Beste, was wir sein können? Wo wollen wir eigentlich hin? Wollen wir überhaupt irgendwo hin? Außer regelmäßig in den Urlaub? Ich rede jetzt nicht von einer großen Utopie, die sind mir alle suspekt, sondern einfach ...

... gesellschaftliche Ziele, die wir uns setzen und mit Nachdruck verfolgen, statt uns irgendwie durchzuwurschteln. Ist das überhaupt möglich in einer Zeit, wo wir so vielen globalen Problemen gegenüber stehen, vor allem der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen?

Und was können wir tun als Deutsche, mit kaum mehr als 1% der Weltbevölkerung? Nun, mit über 7% der globalen Wirtschaftsleistung ist Deutschland bedeutend und liegt vor Indien mit seinen fast 1,4 Mrd. Einwohnern, auf Platz 4 hinter den USA, China und Japan.

Wir sind also noch wer, aber Deutschland wird seiner Rolle und Verantwortung kaum mehr irgendwo gerecht. Dass Deutschland international nicht gerne führt, ist historisch verständlich, aber derzeit schaffen wir es nicht mal, ein gutes Beispiel zu setzen.

Habe Deutschland für eines der lebenswertesten Länder der Welt gehalten, wo man gut eine Familie gründen und davon ausgehen kann, dass die Kinder eine brauchbare Ausbildung bekommen und nicht ermordet oder eingesperrt werden und allgemein relativ frei leben können.

Der Grund, warum ich vor zehn Jahren in die Politik gegangen bin war, dass ich befürchtete, dass wir all das Stück für Stück verlieren, weil Dienst an der Gesellschaft und dienen an sich außer Mode gekommen sind. Stattdessen ist Geiz geil geworden und Geld verdienen Selbstzweck.

Dabei ist Geld anhäufen an sich sinnloser als Klopapier zu horten - es kommt nämlich darauf an, was man mit dem Geld macht, und ich habe nicht das Gefühl, dass Deutschland mit seinem Reichtum und seinem Potential allzu sinnstiftend und zukunftsgewandt umgeht.

Ich weiß, ich klinge jetzt etwas wie ein verbitterter alter Mann, der sich über den Zustand einer sich gewandelten Gesellschaft beklagt, die den Idealen und Ansprüchen nicht gerecht wird, mit denen er aufgewachsen ist.

Ich behaupte nicht, früher wäre alles besser gewesen, im Gegenteil, das meiste war früher schlechter, außer Haushaltsgeräte vielleicht, da haben wir den Peak seit dem 1990er Jahren hinter uns, aber wir schlagen keine Kinder mehr, dürfen in der Ehe nicht mehr vergewaltigen, ....

... sperren keine Homosexuellen mehr ein, haben kein Blei mehr im Benzin und keine FCKWs in Klimaanlagen, um nur ein paar Beispiele dafür zu nennen, wohin man sicher nicht zurück will.

Insgesamt aber bin ich wieder sehr unzufrieden mit dem Stand der Dinge, vor allem, weil Deutschland riesiges Potenzial hat, um sich selbst und die Welt voranzubringen, das ich aber derzeit nirgendwo auch nur annähernd ausgeschöpft sehe. Vielleicht geht es uns einfach nur zu gut.