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21 Jan, 44 tweets, 7 min read
Beeindruckend, mit welcher Geschwindigkeit der Regierungswechsel in den USA vonstattengeht. Und wohltuuend, dass jetzt wieder eine funktionierende Politikmaschine die USA antreibt.
Durch die vier Jahre Donald Trump hat sich unser Maßstab so sehr gewandelt, dass Normalität und erwartbare Professionalität als großartige Überraschung erscheinen, so bewegend, dass einem hier und da die Augen feucht werden.
Tatsächlich verdient gute Politik mehr Respekt, als sie oft genießt, und gute Politik zu machen ist verdammt schwer, oft ist gute Politik nicht einmal zu erkennen, denn Politik ist keine Wissenschaft, und es gibt keinen objektiven Maßstab. Gesellschaft setzt Maßstäbe.
Besonders frustierend ist auch das "no glory in prevention", was letztlich eine Folge davon ist, dass wir Negativem höhere Aufmerksamkeit schenken als dem Positiven. Normalität wird stark unterschätzt. Nach Corona und Trump sicher weniger.
Es ist aber nicht nur ein Aufmerksamskeitproblem - es ist ein ganz reales Problem, dass nur eine von tausend Sachen, die man nicht wirklich unter Kontrolle hat, schief gehen muß, und man hat mehr als einen schlechten Tag. In vielen Jobs darf man sich keine schweren Fehler ...
... erlauben, aber als Politiker wird man nicht von neutralen Richtern oder Sachverständigen beurteilt, sondern wird von Leuten kritisiert, die einem den Job nehmen wollen und beurteilt von einer oft uninformierten und politisch naiven Öffentlichkeit.
Der Großteil der Dinge, mit denen man als Politiker befasst ist, kann man der Öffentlichkeit nämlich gar nicht vermitteln, weil die meisten Leute weder die Qualifikation noch die Zeit haben, das zu durchdringen.
Selbst als Abgeordneter kann man bestenfalls nur einen Bruchteil dessen durchdringen, was ein Parlament macht, geschweige denn, was die Regierung bzw. Verwaltung so treibt. Politik ist ein hoch arbeitsteiliges Geschäft, bei dem niemand alles auch nur annähernd durchblickt.
Wie es sich an der Spitze, in einem Regierungsamt so anfühlt, kann ich aus eigener Erfahrung nicht sagen, aber ich war schon mal mit dem einen oder anderen Regierenden oder Minister trinken. Nur soviel: Ich wollte den Job nicht haben.
Politik ist hart. Sie hat mir aber die intensivsten Emotionen erleben lassen, in jeder Richtung. Tiefe Verbundenheit mit Mitstreitern, die zu engsten Freunden wurden, Glücksmomente nach gewonnen Wahlen, aber auch tiefsten Zorn und Kampfeifer, der mich drei Tage wach gehalten hat.
Und so viel Neues und Interessantes: Geschichte, Philosophie, Soziologie, Recht und Rechtstheorien, Gesellschafts- und Politiktheorie, Wirtschaft, Gesundheit, Energie, Verkehr, Polizei, Geheimdienste und die vielen ungeschrieben parlamentarischen Regeln - all das waren Themen,...
...mit denen ich mich mit Begeisterung auseinandergesetzt hatte, um so gut wie möglich zu verstehen, wie die Welt und ein hochentwickeltes Land mit vielen Menschen funktioniert und welche Rolle Politik dabei hat und haben sollte.
Twittertauglich zusammengefasst: Politik kann sehr mächtig sein, macht sich aber oft ohnmächtig, weil unser System auf Stabilität ausgelegt ist. Und Politik reagiert mehr als das sie agiert, und deshalb ist sie oft zu spät.
Speziell in Deutschland wurden nach der Nazidiktaktur vielfältigeste Mechanismen in unser politisches System eingebaut, die den politischen Spielraum begrenzen und radikale Systemänderungen praktisch unmöglich machen.
Politik ist wie Waten in halstiefem Wasser. Man kommt schwer voran und sieht nicht, wo man drauftritt. Also lieber langsam und vorsichtig vorantasten. Ist sicherer und weniger anstregend. Vor allem sicherer.
Um das System selbst grundlegend zu verändern, also die Verfassung, braucht es 2/3 Mehrheiten und Zustimmung weiter Kammern, und in Deutschland gibt es sogar jede Menge Artikel, die durch die Unabänderbarkeitsklausel Art 79 Abs 3 geschützt sind.
Es gibt also jede Menge Dinge, die die Politik in einer freiheltlichen Demokratie nicht machen darf. Demokratie hat Grenzen in den Rechten des Einzelnen. So hat es sich nach tausenden von Jahren als vorteilhaft erwiesen.
Man glaubt, dass freiheitliche Demokratien anderen System überlegen sind, weil sie niedrigere Kontroll- und Erzwingungskosten haben als autoritäre Systeme, wirtschaftlich erfolgreicher sind, weil die Menschen ihr Potential besser entfalten können, ...
... und dass freiheitliche Demokratien weniger korrupt sind als autoritäre Systeme, weil die Staatsführung und jedes Mitglied der Staatsorgane gesetzlich zur Rechenschaft gezogen und ersetzt werden kann.
Eigentlich ganz überzeugend, die Theorie, aber warum haben wir dann laut en.wikipedia.org/wiki/Democracy… nur 75 Demokratien in der Welt, davon nur 22, die als voll funktionierend eingestuft werden.
Die USA rangieren auf Platz 25 in der Kategorie "Flawed democracy", hinter Japan, Südkorea sowie Portugal und Chile, die beide als volle Demokratien eingestuft werden. Chile? Wie sich die Zeiten ändern. Die USA undemokratischer als Chile.
In den letzten 15 Jahren hat sich nach diesem Index auch nicht viel getan - die Welt ist nicht demokratischer geworden. Wie passt das jetzt zur Theorie, dass demokratische Systeme besser sind? Warum hat nicht jedes Land eine Demokratie, wenn es das beste System ist?
Weil sie von Diktatoren, Autokraten, Cliquen, Junten oder Einheitsparteien regiert werden, die das Volk unterdrücken und sich an ihre Privilegien klammern, so die gängige Erklärung. Und das Volk kann offenbar nichts dagegen machen oder will nichts dagegen machen oder beides. Hmm.
Um es klar zu sagen: Es gibt kein "natürlichen" Trend zur Demokratie. Demokratie ist eine kulturelle Errungenschaft, die errungen oder erzwungen werden will - sie passiert nicht von allein.
Es gibt keine Naturkraft, die dafür sorgt, dass wenn man einen Diktator entmachtet und das herrschende System beseitigt, an seiner Stelle eine blühende Demokratie entsteht - wir haben gesehen, was meistens passiert: Zersplitterung, Bürgerkrieg, Zerstörung.
Und am Beispiel USA konnten wir sehen, wie eine Demokratie Stück für Stück kaputtgehen kann, aber das System ist schon länger kaputt und es eigentlich bis heute nicht geschafft, die Ideale der "Gründungsväter" zu erreichen, vor allem beim Thema Gleichheit vor dem Gesetz.
Erst waren nur weiße Männer gemeint, und dann kamen auch nichtweiße und Frauen dazu, aber so ganz durchgesetzt hat sich das noch nicht. Ist halt einfacher proklamiert als umgesetzt, so eine Gleichheit vor dem Gesetz.
Die Gründungsväter der USA waren ein Haufen spinnerte Politiknerds, die sich ein völlig neues, total umständliches Regierungssystem ausgedacht hatten, das sich zum Erstauen der Welt bis heute gehalten hat und in anderen Ländern in vielen Variationen eingeführt wurde.
Allerdings sind es nur ca. 6% der Weltbevölkerung, die nach gängigen Maßstäben in einem Land lebe, dass Demokratie gut kann, und die USA gehören nicht dazu. Es gibt also ein erhebliches Demokratiedefizit in der Welt.
Wie aber kommt ein Land an Demokratie? Durch Verbreiten von Demokratiememes und dem mühsamen und langwierigen Aufbau demokratischer Institutionen und einer demokratischen Kultur. Zur Wahrheit gehört, dass das viele Länder aus eigener Kraft nicht können.
Und der Fortschritt und Wachstum gefährden ebenfalls demokratische Systeme. Das Internet destabilisiert und fragmentiert kollektive Wahrnehmungsprozesse, und unser Wirtschafts- und Finanzsystem produziert Fehlanreize und zerstört Lebensgrundlagen nicht nur von Menschen.
Dazu dann noch ein weitreichendes Versagen westlicher Demokratien bei der Pandemiebekämpfung. Das war keine Werbung für demokratische Systeme, auch, wenn es Demokratien gibt, die es hinbekommen haben, und wenigstens sind wir bei den Impfstoffen vorne.
Trump ist nicht mehr Präsident und Joe Biden ist mir hundert mal sympathischer als Donald Trump, und inhaltlich klingt alles bisher super, aber ich hadere damit, dass jetzt die Wahrheit von den Demokraten gepachtet scheint, weil zuvor ein notorischer Lügner das Amt innehatte.
Dass Trump ein Lügner war sagt genau nichts über Biden oder die Demokraten aus, und ich auch wenn mir Biden's Wahrheit viel näher und sympathischer ist als die plumpen Trump-Lügen, so denke ich, dass er in eingen amerikanischen Lebenslügen anhängt und ein Maschinenpolitiker ist.
Da ist zum einen viel religiöses Gewese, ein Tribut an die Paradoxie, dass die Trennung von Kirche und Staat auch bedeuten kann, dass die Kirche unheiligen Einfluß auf das Staatswesen ausübt und die Demokratie mituntergraben hat.
Die Hauptlüge aber ist die um die Rolle der USA als Weltmacht und als Imperium, das sich selbst verleugnet und kein Ziel und somit auch keine Strategie für die Gestaltung der Welt hat. Die USA sperren sich mit Zähnen und Krallen gegen globale Instititionen wie den ICJ,...
...aber weigern sich gleichzeitig, selbst Verantwortung für Demokratie und Menschenrechte in der Welt zu übernehmen. Wenn Demokratie in einem Land die Interessen der USA berührte, gewannen in der Regel die Eigeninteressen, und die USA haben auch Demokratien zerstört.
Aber was kommt jetzt? Die USA machen wieder bei der WHO und beim Klima mit, das war cool gestern, und sich bei "Freunden" und Verbündeten zu melden und aufzuhören, die ständig gegen das Schienbein zu treten, ist zwar nett, aber bischen wenig.
Wollen wir die Welt überhaupt demokratisieren, oder ist das so eher so ein politisches Luxussystem für reiche Länder, dass sich jeder selber zulegen muß? Aber was ist mit den unterdrückten Leuten in den autoritären Regimen, die sich nicht selbst befreien können?
Wie ernst nehmen es die USA mit Menschenrechten? Im eigenen Land? Im Ausland? Wird Biden die Todesstrafe aussetzen? Und was wird mit China und Russland? Iran? Nordkorea? Syrien? Irak? Afghanistan? Einige der Länder versuchen aktiv, Demokratien zu destabilieren
Mein Punkt ist: Wenn die USA schon nicht bereit sind, allein die nötigen Mittel und die Energie in die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten zu stecken, sollte sie nicht zugleich den Aufbau globaler Institutionen behindern, sondern diese stärken und sich integrieren.
China und Russland sind zwei große Probleme in der Welt, mächtige Antidemokratien, wenn man so will, die aber beide für nicht demokratiefähig gehalten werden und man vielleicht nicht zu unrecht befürchtet, dass es dort zu Chaos und zu Unruhen käme, wenn Demokratie ausbräche.
500 Mio. freie Chinesen, die vom Land in die Städte strömen, Autonomiebewegungen, Hunger und Bürgerkrieg, Atomwaffen in Händen von Aufständischen. Hinter vorgehaltener Hand zieht es der Westen vor, dass die KP die Chinesen weiter im Griff behält, als dass dort Chaos ausbricht.
Historisch waren die Chinesen nie auf Weltherrschaft aus, aber China hat einen Plan für die Welt und setzt ihn mit Nachdruck um, und das Ergebnis wird uns nicht gefallen. Die USA und Europa und der Rest der freien Welt sollten sich schleunigst was einfallen lassen.

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18 Jan
Hörte gerade, dass nicht wenige Professoren an Berliner Hochschulen derzeit auf Präsenzprüfungen bestehen, so lange es erlaubt ist, und weil nicht richtig gezählt wird, bleibt es erst mal auch erlaubt. Ist nur ein kleines Beispiel dafür, warum sich trotz Lockdown Leute anstecken.
Wir müssen länger im Lockdown bleiben, weil manchen Professoren Online-Prüfungen zu umständlich sind. Die im Übrigen so funktionieren, dass die Studenten die Klausur zu Hause ausdrucken, auf Papier schreiben, einscannen, hochladen und das Original per Post an den Prof schicken.
Ich hatte bei Online-Prüfungen ja an irgendein Online-System gedacht, aber in Wirklichkeit würde als technische Voraussetzung ein Faxgerät ausreichen. Können wir vielleicht mit der Lüge aufhören, wir wären exzellenter Forschungs-, Wissenschafts- und Technologiestandort?
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17 Jan
Armin Laschet hat in meinen Augen im Umgang mit der Corona-Pandemie schwere Schuld auf sich geladen, und ich halte ihn für den Tod zigtausender Menschen persönlich mitverantwortlich. Dieser Mann gehört eigentlich in Schimpf und Schande aus der Politik gejagt.
Angela Merkel ist trotz ihres Doktortitels keine Intellektuelle, und sie ist wenig inspirierend und mitreißend, aber sie ist solide, pragmatisch und friedfertig, und kein Vergleich mit dem Halbjuristen und Ex-Journalisten Laschet, der sich laufend selbst überschätzt.
Laschet halte ich für gefährlicher als Merkel, weil bereits in seiner Rolle als Ministerpräsident sein Wirkungsvermögen sein Erkenntnisvermögen zu sehr übersteigt, er zu impulsiven Reaktionen neigt und charakterlich eher befleckte B-Ware ist.
Read 24 tweets
16 Jan
I don't think the NRA can use bankruptcy protection to move to Texas. They can found a new organization in Texas, but they won't be able to use the name NRA or transfer assets or members, and if they do, the new organization might become liable for the NRA's debt.
I guess they could try to "sell" their assets and members to a new Texas-based NRA, but this new organization would have to come up with hundreds of millions upfront that the NRA could use to pay off it's debt. Would a new NRA be able to come up with that money?
Maybe they have funneled money somewhere for some time to pull this off, but that could be also seized during the bankruptcy process if that money came from the NRA. I am not that familiar with US law, but the basic rules are very similar.
Read 6 tweets
15 Jan
Corona-Zahlen-Update 15.1.2021: Weihnachten und der Jahreswechsel haben zu einer "Delle" bei der Zahl der Neuinfektionen und Toten geführt. Die Neuinfektionen auf Niveau von Anfang Dezember, Zahl der Toten auf Höchstniveau.
Wie gestern in diesem Thread erläutert, korrelierten seit 3 Wochen die Infiziertenzahlen mit der Zahl der Tests und nicht wie üblich mit der Positivenrate, so dass es tatsächlich kaum Bewegung bei den tatsächlichen Neuinfektionen gab.
Die "Delle" im Graph der Toten über Weihnachten und Silvester ist wohl auch erfassungbedingt und nicht real. Die bisher in allen Ländern steigenden Zahlen beginnen sich langsam zu nivellieren. In Sachsen, Bayern, BaWü und Bremen leicht fallende Fallzahlen.
Read 21 tweets
14 Jan
Die neuen Corona-Testzahlen oder warum wir Mitte Januar immer noch nicht wissen, wie sich die Infektion entwickelt: Nach -34%, -26% in den beiden Vorwochen jetzt +35% mehr Test in der letzten Woche. Eine Achterbahnfahrt. Image
Hier der Graph dazu. Blau die Zahl der Tests pro Woche, rot die positiven Tests, grün das Verhältnis der beiden, die Positivenquote. Image
Normalerweise folgt die Veränderung der Positivenquote (grün) der Veränderung der positiven Tests (rot), moduliert durch kleine Änderungen der Testanzahl (blau). Seit 3 Wochen laufen sie erstmals völlig entgegengesetzt; die Zahl der positiven Tests folgt eher der Zahl der Tests. Image
Read 9 tweets
13 Jan
Trump has made some public appearances and spoke a bit. What did he have to say? To summarize it: He is happy about the riots and wants more. Of course that is not the way he said it. Understanding Trump is not difficult, but you have to do some translation, and here is how.
In short: If Trump says, I want X or I don't want X, it can mean the exact opposite or it can mean nothing. You have to read between the lines.

He does this to confuse the public and prosecutors and the jury, while his followers intuitively understand what he actually means.
Trump speaks like a mafia boss who avoids incriminating statements while he is ordering crimes. He probably learned that In many past court battles because of his many fraudulent deals and businesses, and combined it with some shady marketing and sales psychology.
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