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22 Feb, 25 tweets, 4 min read
Bin ich ein "Lockdown-Fanatiker"? Ich denke nicht, denn es fehlen mir diverse Aspekte von Fanatismus - vor allem ist der Stellenwert, den die Frage in meinem Leben einnimmt, nicht so hoch, dass es mein Leben wesentlich bestimmen würde - jedenfalls nicht im Innern.
Weshalb aber manche Leute meine Haltung mit Fanatismus verwechseln könnten ist, dass ich inzwischen genug Informationen gesammelt habe, dass meine Haltung feststeht und ich es für praktisch ausgeschlossen halte, dass jemand mit Fakten kommt, die diese umwerfen könnten.
Nicht für theoretisch ausgeschlossen, aber in der Praxis bräuchte es einen wissenschaftlichen Durchbruch, also wesentliche neue Erkenntnisse, die eine völlig andere Sicht auf das Geschehen liefern und durch tausende neuer Studien untermauert sind. Das sehe ich nicht ansatzweise.
Im Gegenteil, das Lager der Corona-Skeptiker und Lockdown-Kritiker hat keine stichhaltigen Argumente. Null. Nada. Im wesentlichen fallen deren Argumente in zwei Kategorien:
1) Die Ausbreitung der Infektion ist durch Lockdowns nur unwesentlich beeinflussbar, es ist das Wetter oder irgendwelche anderen, oft unbekannten Faktoren. Als "Beweis" wird angeführt, dass Infektionen schon vor Lockdowns zurückgehen und vor Ende bereits ansteigen.
Das ist in der Tat so, denn viele Leute sind schneller als Politik und ändern ihr Verhalten aufgrund Nachrichtenlage und nicht Verordnungslage. Ohne Lockdown-Anordnung aber lässt man diese Leute im Regen stehen, und nicht alle handeln ohne Anweisung - oft, weil sie nicht können.
Kein Land ist ohne nichtpharmazeutische Interventionen (NPIs), also einem Bündel aus Vorschriften und Maßnahmen, klargekommen, und die es ausprobiert haben wie UK und Schweden haben einen hohen Preis bezahlt, vor allem die ältere Bevölkerung.
Die Zahlen hier zeigen, wann und in welchem Umfang Staaten ihre Bevölkerung, vor allen die ältere, an Covid19 haben sterben lassen. Die einzige Erklärung, die die Unterschiede erklärt ist, wie die Menschen in dem jeweiligen Land auf Covid reagiert haben.
Und wie sie reagieren, dass ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesses, bei dem Politik, Meinungsführer, Medien und andere Multiplikatoren zentrale Rollen einnehmen, aber auch die Struktur der Gesellschaft und ihre Kultur eine wichtige Rolle spielen.
Oft wurde betont, dass die asiatische Kultur, die weniger individualistisch ist, besser mit Pandemie klarkommt. Das ist sicher ein Faktor, aber kein zwingender. Das breite Spektrum in Europa, die Unterschiede in benachbarten Ländern, zeigen, dass wir keine Asiaten sein müssen.
Es zeigt auch, dass wir Menschen vier Immunsysteme haben: Man kann argumentieren, dass wir neben dem angeborenen und dem erworbenen Immunsystem noch ein psychisches und ein soziales Immunsystem haben, um uns vor Infektion zu schützen - und das liegt im Kopf, Gefühl und Verstand.
Genetische Faktoren spielen auch eine Rolle, insbesondere für die Schwere von Verläufen, aber weniger für die Ausbreitung. In Asien scheinen zudem mehr Leute Gene zu tragen, die mit schweren Verläufen in Verbindung gebracht wurden.
Die Altersstruktur und wie eng die Menschen zusammenleben hat sicher auch einen starken Einfluss auf den Verlauf der Pandemie, aber auch der ist nicht entscheidend.
Bleibt noch das Wetter. Das Wetter hat vermutlich einen Einfluss, aber der Einfluss des Wetters auf das Verhalten und die Zahl und Art der Kontakte dürfte den chemisch-physikalischen Einfluss des Wetters auf das Virus außerhalb des Körpers übertreffen.
Wir wissen erstaunlich wenig darüber, wie Wetter die Ausbreitung beeinflusst. Wenn es Korrelationen gibt, dann nur mit Tiefsttemperaturen, nicht mit Höchsttemperaturen, und die liegen je nach Studie zwischen 3% und 30%. Meine Rechnungen für Berlin ergaben nichts Signifikantes.
Auf jeden Fall wissen wir, dass ein Sommer allein Covid nicht an der Ausbreitung hindert - dazu genügt ein Blick auf die Länder der Südhalbkugel, wo gerade Sommer ist. Oder Asien, wo es trotz Winter ruhig geblieben ist.
Egal, wie man es dreht und wendet: Das einzige Mittel, das stark genug wirkt, um das Corona-Virus allein zurückzudrängen, ist ein Lockdown. Alles andere sind Stellschrauben, von denen die besten bis -25% gehen, aber wir brauchen eher -80% bis -90%, ...
... um einen Virus mit R0 von 3,5-6 zurückzudrängen. Das geht nur mit einem Bündel extremer Maßnahmen, die man dann als Lockdown bezeichnen kann oder nicht, aber Kontakte und deren Intensität zu reduzieren ist das Einzige, worauf es am Ende ankommt, und das passiert im Kopf.
2) Das zweite Argument von Lockdown-Kritikern ist, dass ein Lockdown so schwere psychische und wirtschaftliche Schäden verursacht, dass es das nicht wert ist. Auf jeden Fall aber muss es eine Ausnahme vom Lockdown für X geben, weil "das geht ja gar nicht".
Wie viele Menschenleben ist die Ausnahme für X wert? Ich habe da nicht von allzu viel X gehört, wo ich sagen würde, dass das überhaupt ein einziges Menschenleben wert wäre, aber bleiben wir realistisch. Wir würden ja nicht alle Kitas schließen, um vielleicht ein Leben zu retten.
Wie sähe es mit 100 Menschenleben gegen 2 Wochen frühere Schließung von 50.000 Kitas aus? Die Leute, die sterben, sind alle alt und sterben auch so, und Kinder sind keine Infektionstreiber, höre ich da? Klar kann man sich das Einreden und angebliche Belege dafür finden, ...
...aber warum setzt bei manchen Leuten genau an den Stellen der "gesunde Menschenverstand" aus, auf den sie sich bei Kritik an Autoritäten sonst so gern berufen? Wer Kinder hat, weiß, was Kitas für Keimbrutstätten sind. Genauso wie jeder, der mal regelmäßig in Sportstudios war.
Der Punkt ist: Praktisch jede Ausnahme erhöht den R-Wert und verschlimmert und verlängert die Pandemie. Der eigentliche Deal ist: *Alle* machen zu, und dafür machen wir fünf bis zwanzig mal kürzer Lockdown. Und schauen dann hinterher gerne nach, was gewirkt hat und was nicht.
Da aber die Summe von Maßnahmen oft stärker wirkt als eine Maßnahme allein, ist das ein sehr schwieriges Unterfangen, und es kann auch kontraindizierte Maßnahmen geben, aber grundsätzlich gilt: Mehr Kontakte, mehr Virus. Wüsste nicht, wie mir das jemand ausreden sollte.
Bin ich jetzt deswegen ein Lockdown-Fanatiker? Ich denke, nicht. Eher würde wohl die Bezeichnung "fundamentalistischer Lockdown-Extremist" passen, tief überzeugt von der zum Dogma erhobenen Erkenntnis: "Ein Lockdown kann weder zu früh noch zu extrem sein - niemals."

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23 Feb
Mir wurde zugetragen, dass es in Berlin praktisch keine Möglichkeit gibt, sich aufgrund einer medizinischen Indikation gegen Corona mit Priorität impfen zu lassen.
Die naheliegende Variante wäre, sich an seinen Arzt zu wenden und mit einem Attest irgendwo vorstellig zu werden. Problem ist, es gibt keine solche Stelle. Die Impfhotline in Berlin hilft nur weiter, wenn man bereits eine Einladung zur Impfung hat, ...
....verweist ansonsten an den Gesundheitssenat. Der verweist wiederum auf die Impfhotline. Die Krankenkassen wiederum verweisen auf die Ämter, und Ärzte auf die Impfhotline. Die Impfzentren reden nur mit Leuten mit Einladung. Niemand kann oder will helfen.
Read 6 tweets
23 Feb
Das ist ja schön, dass der Senat keine "weiteren" Lockerungen sieht. Mit Verschärfungen möchte man aber offensichtlich warten, bis die Zahlen wieder ordentlich steigen und wieder mehr Leute sterben. Das ist halt 3. Welle mit Ansage.
bz-berlin.de/berlin/senat-s…
Aber wer weiß, vielleicht gehen ja die Zahlen wieder runter, einfach so, ist ja letzten Sommer passiert, Mitte Juni, dass die Inzidenz in 2 Wochen von 6 auf 15 stieg und in 10 Tagen wieder auf 6 fiel, ohne, dass man etwas tun musste. Nicht, dass das wahrscheinlich wäre, aber ...
... man kann es auch nicht hundertprozentig ausschließen, und Gott bewahre, dass wir bei Inzidenz 62 und nur 5% Zunahme in der letzten Woche unnötige Maßnahmen treffen, die die Zahlen unnötig weiter nach unten bringen. Und wir haben ja wieder Platz auf den Intensivstationen.
Read 16 tweets
21 Feb
Kleines Corona-Zahlen Update 20.2.2021:
Neuinfektionen Deutschland (blaue Treppe):
- 7-Tage Schnitt 7205/Tag,
- 50.436/Woche, Vorwoche 53.063, -4,9%
- Rückgang in den letzten 7 Tagen praktisch zum Stillstand gekommen
7-Tage-R-Wert Deutschland (dunkelgrüne Treppe):
- in 8 Tagen von 0,81 auf 0,97 angestiegen
- Zeitpunkt für Lockerungen bei sicheren Inzidenzen rückt damit in weite Ferne (>6 Monate)
Covid-19 Sterbefälle Deutschland (schwarze Treppe):
- 7-Tage-Schnitt ggü. Vorwoche von 493 auf 422/Tag um -14,4% gefallen, 2964/Woche
- Wird noch 2 Wochen sinken auf 250-350/Tag, dann stagnieren und im März wieder ansteigen
Read 26 tweets
18 Feb
Da wir den Großteil der Weltbevölkerung und Teile der Tierwelt zu einem gewaltigen Kulturmedium für SARS-CoV-2-Virus-Evolution gemacht haben, was für Ergebnisse können wir eigentlich erwarten?
Nun, da wir in den meisten Ländern keinen effektiven Lockdown haben, aber Bündel unterschiedlicher Maßnahmen, üben wir einen evolutionären Druck aus, der Mutationen selektiert, also Virus-Varianten einen Vorteil verschafft, die unseren Maßnahmen entgehen können.
Reduzieren wir Kontakte, haben Mutationen einen relativ größeren Vorteil, die ansteckender sind, vor allem in Kombination mit anderen Schutzmaßnahmen. Halten wir Abstand, werden Viren selektiert, die auf größere Entfernung infizieren.
Read 26 tweets
18 Feb
Das Corona-Virus ist in einer sehr prekären Situation. Außerhalb des Körpers zerfällt es nach Stunden, ja oft Minuten oder Sekunden, und im Körper wird es gnadenlos vom Immunsystem attackiert und nach einigen Tagen vernichtet
Um zu existieren, braucht es immer wieder neue Wirte, und zwar innerhalb eines Zeitfensters von wenigen Tagen, höchstens zwei Wochen, dann ist es zu spät, dann ist der Verfolgungsdruck durchs Immunsystem unüberwindlich.
Um einen neuen Wirt zu infizieren, muss es erst aus Zelle, in der es geboren wurde, in eine Körperflüssigkeit gelangen. Dann muss es Glück haben und in einer Ecke des des Körpers sein, wo die Flüssigkeit von einem Luftstrom...
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17 Feb
Ich würde ja dringend Qualifizierungsmaßnahmen für die Mitarbeiter des Gesundheitsamts empfehlen. Laut RKI-Definition ist es nur dann Kategorie 2, wenn die Kinder auch Masken getragen hätten. Siehe Anhang 2 hier: rki.de/DE/Content/Inf…
Hinzu kommt auch noch, dass generell die Einstufungsregeln für Kontakte, bei denen Masken getragen werden, doch sehr zu wünschen übrig lassen. Masken bieten nur einen Schutzfaktor, der zwischen 1,1 und 100 und mehr liegen kann, je nachdem, welche Masken von wem getragen werden.
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