Die Impfung verändert die Bedeutung von Fallzahlen und Inzidenzen. Eine Inzidenz von 200 im Dezember 2020 eine ganz andere Bedeutung hat als im Juni 2021 oder September 2021. Denn der Nenner der Inzidenzberechnung verändert sich strukturell! THREAD 1/x
Bisher waren alle Einwohner immunnaiv: jeder, der genügend Viruspartikel abbekommt, steckt sich an und durchlebt die Infektion mit mehr oder weniger starken Symptomen, manchmal ohne Symptome. 2/x
Durch die Impfung verändert sich aber nun unsere Berechnungsgrundlage für die Inzidenz pro 100.000 Einwohner. Ein immer größerer Anteil der Bevölkerung erkrankt nicht mehr (oder kaum) und gibt das Virus auch nicht oder kaum mehr weiter (etwas vereinfachend gesagt). 3/x
Das ist großartig! Aber….
Die Gesellschaft in Deutschland wird bis etwa Ende des Jahres gespalten sein, in die Gruppe der glücklichen Geimpften und die Gruppe der hoffenden Ungeimpften. 4/x
Ersteren werden Fallzahlen und Inzidenzen schnell egal sein. Letztere werden auch weiterhin ein Argusauge auf diese Werte in ihrem Umfeld haben müssen, um zu entscheiden, wie sie sich im Alltag verhalten. Das wird unsere Interpretation der Inzidenzwerte verändern. 5/x
Beispiel: Nehmen wir an ein Landkreis hat eine Inzidenz von 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in 7 Tagen. Beim Besuch einer Veranstaltung oder eines Klassenzimmers mit 20 Personen liegt das Risiko, dass eine Person infiziert ist und anstecken könnte, bei ca. 11,3%. 6/x
Nehmen wir jetzt an, dass die ältere Hälfte der Bevölkerung in diesem Landkreis (das wären ca. alle über 50 Jahre) geimpft ist und die vom RKI gemeldete Inzidenz immer noch bei 200 liegt. 7/x
Wenn sich dann bei Veranstaltung oder in Klassenzimmer nur Menschen treffen, die unter 50 Jahre alt sind, dann liegt das wöchentliche Risiko, dass eine infizierte Person dabei ist, bei 21,5% – das Doppelte – denn die Ü50 können ja (fast) nicht mehr infiziert sein! 8/x
Alle Infektionen haben sich in die Gruppe der Unter-50-Jährigen verschoben und erhöhen dort die Inzidenz auf 400. Wir schauen aber immer noch auf die Gesamt-Inzidenz? Das ist falsch. 9/x
Noch extremer wird das, wenn Ende des Sommers (hoffentlich) alle Erwachsenen geimpft sind. In der verbleibenden Gruppe der U20 sind fast 10 Millionen, eine vom RKI gemeldete Inzidenz von 200 im September bedeutet dann eine Inzidenz von 1.660 in der Gruppe der U20. 10/x
Dann sitzt mit 64% wöchentlicher Wahrscheinlichkeit ein Infizierter in jedem Klassenzimmer mit 20 Schülern, alle sind unter 20. 11/x
Jetzt werden sich viele denken: Na und? Die jungen Menschen sterben doch alle nicht an COVID-19. Stimmt, aber… Die Risiken der Jüngeren sind größer Null! 12/x
Wenn ein Mensch unter 50 Jahren an Covid-19 erkrankt liegt das Risiko eines Krankenhausaufenthalts zwischen 3% und 20%, das Risiko auf einer Intensivstation behandelt zu werden liegt zwischen 0,5% und 3% (Quellen im Blog). 13/x
Das ist alles viel besser als das 7% oder gar 21% Sterberisiko von Ü70 bzw. Ü80, aber es ist eben auch nicht null. 14/x
Und dann ist da noch: #LONGCOVID -- Über die Langzeitfolgen einer COVID-Infektion wissen wir immer noch nicht genug, aber was wir schon wissen ist bedenklich: 15/x
Nennenswerter Anteil (10% bis 30%) aller Altersgruppen, die eine COVID-Infektion durchgemacht haben, sind auch 6 Monate nach der Infektion nicht wieder gesund, nicht wenige sind monatelang arbeitsunfähig. Bei einigen ist ungewiss, ob sie überhaupt wieder gesund werden. 16/x
Wir müssen aufhören die politischen Entscheidungen an bevölkerungsübergreifende Landkreis- oder Bundesland-Inzidenzen zu koppeln. 17/x
Sobald große Alterskohorten der Bevölkerung geimpft sind, müssen wir beim Umgang mit den Verschärfungen und Lockerungen umdenken. Diese dürfen wir nicht mehr an die Inzidenz in der Gesamtbevölkerung koppeln, sondern müssen auf die Gruppe der Ungeimpften schauen. 18/x
Im Mai/Juni/Juli sind es die mittelalten Erwachsenen, die die schlimmsten Folgen abbekommen werden (zu jung um schon geimpft zu sein, zu alt um nur wenige Folgen zu haben), wenn wir die Infektionszahlen nicht unter Kontrolle haben. 19/x
Im Falle der Schulkinder bedeutet das, dass wir auch im Herbst 2021 noch keinen gewöhnlichen Präsenzunterricht ohne Maske, Abstand, Lüften machen werden können, wenn noch Infektionen im Land unterwegs sind: Wir müssen die Ausbreitung auch dann noch scharf kontrollieren. 20/x
Das geht erst, wenn Großteil der Kinder geimpft ist - sonst läuft Virus ungebremst durch diese Altersgruppe und alle Kinder werden infiziert. 2% müssten ins Krankenhaus (200.000) und mind. 10% bekommen Longcovid – das wären 1 Mio langfristig erkrankte Kinder und Jugendliche. 21/x
Prof. Isabella Eckerle, deutsche Virologin, sagt dazu: @EckerleIsabella 22/x
Mit meinem Prognose-Modell habe ich mal einen Jahresverlauf simuliert, bei dem die gesamtdeutsche Inzidenz immer unter 200 bleibt (blaue gepunktete Linie): ab Juni Inzidenzen in Altersgruppen unter 20 auf über 1000 23/x
Ich denke damit wird klar, dass eine altersübergreifende Inzidenz von z.B. 200 in nur wenigen Wochen nicht mehr geeignet ist, um Entscheidungen über Maßnahmen Verschärfung/Lockerung zu fällen. 24/x
Könnte es sein, dass wir auch deswegen im Moment eine Seitwärtsbewegung mit "nur" leichter Steigerung der Inzidenzen sehen, weil wir uns gerade eine höhere Dunkelziffer züchten?
Weil sich die Infizierten-Struktur ändert?
Let me explain:
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* Wir testen meist mit Anlass (Symptome, Kontakt)
* Wir impfen die mit den meisten Symptomen
* Die ohne Symptome (Kinder) holen wir wieder in die Schulen ohne durchgehendes Testkonzept ("Surveillance")
=> Die Infektionen wandern/wachsen in einer unbeobachteten Altersgruppe.
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Exhibit A: Der Anteil der U20 an den Neuinfektionen steigt beständig, das R bei den jungen Menschen ist deutlich erhöht. 3/x
Hat jemand eine altersbezogene WAIFW-Matrix (who acquires infection from whom) für Covid-19, aus der man ablesen kann, wie viele Ansteckungen durch Altersgruppe in jede andere Altersgruppe getragen werden? Ich erwarte, dass die Mehrzahl in der gleichen Gruppe stattfindet. 1/x
Darauf deuten diese (schon etwas alten) Daten aus NL hin. Ich hätte gerne neue Daten dazu, am besten durch Virus-Sequenzierung berechnet.
Ich möchte ein sehr vereinfachtes Prognose-Modell zur Diskussion stellen, mit dem wir für die Pandemie bis Ende 2021 in die Zukunft schauen können, und bei dem wir dann mit Lockerungen/Verschärfungen oder schnelles/langsames Impfen „spielen“ können. 1/x dirkpaessler.blog/2021/02/27/cor…
Die nächsten Woche werden geprägt sein vom Für&Wider von Lockerungen und Verschärfungen. Auf oder zu? Wer hat recht? Und was passiert wenn wir mehr auf oder mehr zu machen? Unser Bauchgefühl ist angesichts von exponentielle Pandemie-Arithmetik aber kein guter Ratgeber dabei. 2/x
Für solche Fragestellungen holt man sich Hilfe bei der Mathematik, denn die Pandemie folgt sehr simplen mathematischen Konzepten. In der Tat ist der Verlauf der Pandemie sehr gut berechenbar. 3/x
Die Corona Mutation aus UK ist 50-70% ansteckender als die “bisherigen” Corona-Viren. Das ist also jetzt wie eine neue Pandemie, die sich ausbreitet, während die letzte Pandemie noch gar nicht rum ist. 1/n #CoronaVirusDEdirkpaessler.blog/2021/01/03/mut…
Man kann sich das m.E. durchaus so vorstellen, als würde zusätzlich zur bisherigen Corona-Pandemie eine weitere Pandemie starten -- zufällig auch ein Corona-Virus --, aber mit deutlich höherer Verbreitungsgeschwindigkeit. 2/n