Kai Schulze berichtet hier über die neue Studie zu #LongCovid aus Nature Medicine und fasst m.E. gut Methodik, Stärken und Ergebnisse zusammen. Was in meinen Augen zu kurz kommt, sind die Schwächen und Limitationen der Studie und die sind in meinen Augen doch beachtenswert. (1/n)
Aber erstmal: Die hohe Zahl an Studienteilnehmern, der Studienstart vor Symptombeginn machen dies ohne Frage zu einer wichtigen Studie mit einem wichtigen Datensatz. Auffällig ist, dass die LongCovid Fälle hier seltener sind als in anderen Studien, mit 13,3% Patienten mit (2/n)
Symptomatik 28 Tage nach PCR-Test, gibt sie aber alles andere als Entwarnung.
Wo liegen jetzt aber die Limitationen:
Nun, zu allererst geht es hier um selbstberichtete Symptome einer selbstselektierten Gruppe, nämlich derer, die die App nutzen, auf der die Studie basiert. (3/n)
Das bringt zwei große Probleme mit sich: Zum einen die Frage nach der Repräsentativität der Teilnehmer, die wahrscheinlich nach Altersgruppe und Interesse vorselektiert sind. Das sieht man schon an einem Frauenanteil von 72%, was ein sehr starkes Ungleichgewicht bei einer (4/n)
Erkrankung ist, die bei Männern im Schnitt schwerer verläuft. Auch dass Benutzerinnen einer solchen App wahrscheinlich ein anderes Gesundheits- und Risikoverhalten zeigen als Nicht-Nutzer ist zumindest wahrscheinlich.
Das zweite Problem ist, dass selbst-berichtete Daten (5/n)
sehr anfällig für Placebo und Nocebo-Effekte sind (Hatte ich hier kurz erklärt: ). Patienten könnten also während so einer Studie Symptome auffallen, die ihnen sonst nicht aufgefallen wären, sie könnten aber auch Symptome übersehen, zum Beispiel durch (6/n)
Gewöhnung - berichtet man leichten Kopfschmerz nach fünf Tagen schweren Kopfschmerz überhaupt noch? Last but not least tendieren menschen dazu, Antworten so zu geben, wie sie glauben, dass die Antwort erwartet wird, was das Bild nochmal mehr oder weniger stark verzerrt. (7/n)
Trotz all dem bleiben von Patienten erlebte und berichtete Symptome natürlich für die Praxis extrem relevant, man muss sich nur ihrer eingeschränkten Verlässlichkeit bewusst sein.
Auf dieser Basis selektiert die Studie nun die verlässlich auswertbaren Daten und da (8/n)
kommen wir zu weiteren Limitationen, wenn wir auf die "Inclusion and exclusion criteria" schauen.
Eingeschlossen wurden Menschen ab 18 Jahren mit BMI zwischen 15 und 55, mit einem positiven PCR-Test und Symptombeginn zwischen 14 Tagen vor und 7 Tagen nach dem Test und (9/n)
vor dem 30. Juni (Wir betrachten also nur Welle 1)
Ausgeschlossen wurden Teilnehmende ohne Symptome, mit Symptomen schon zu Studienbeginn, mit mehr als 7 Tagen Lücke in der Appnutzung ohne bekannte Hospitalisierung und Patienten mit Symptomen an weniger als 28 Tagen, die (10/n)
letzten Berichtstag 5 oder mehr Symptome berichteten, da diese als nicht verlässlich auswertbar gewertet wurden.

Schauen wir mal in die supplementary table 1, dann wird klar, was das bedeutet:
Es sind 26.392 Fälle mit positiven Tests aufgeführt, bei den 4,223 Millionen (11/n)
Appnutzern also 624,8/100.000 und damit etwa ein um 45% höherer Anteil als im UK* in der Gesamtbevölkerung mit 429,3/100.000 am 30.6. Die Studiengruppe ist also wahrscheinlich eher etwas "übergetestet", was zu einem höheren Gesundheitsbewusstsein als dem Bevölkerungsschnitt(12/n)
passen würde, aber damit wohl auch zum Einschluss mehr leichter Fälle führen dürfte.
Von den 26.392 Fällen waren nun:
5.296 ohne Symptome
4.376 ohne Symptome innerhalb 7 Tage nach test
1.539 mit nur einem Tag Symptomen
Diese 11.211 Fälle (42,5%) wurden als asymptomatische (13/n)
Verläufe exkludiert.
6.695 Fälle hatten Symptome bei Studienbeginn und 1.114 einen zu frühen Symptombeginn (>2 Wochen vor PCR-Test). Auch diese 7.809 Fälle (29,6%) wurden ausgeschlossen, was sicher kritischer ist, da hier eben alle Vorerkrankungen enthalten sind, bei denen (14/n)
zumindest ein Teil der Symptomatik sich mit Covid-19-Symptomatik überschneidet.
Weitere 1.652 Teilnehmende wurden wegen unregelmäßiger Dateneingabem 1.068 wegen Symptombeginn nach dem Enddatum (30.6.) und 470 wegen "Dropping" ausgeschlossen - letzteres sind die, bei denen (15/n)
die Symptome wie oben beschrieben zu schlagartig aufhörten. Das macht 3.190 Fälle, die aus technischen Gründen ausgeschlossen werden (12,1%)
Bleiben 4.182 Fälle, die ausgewertet wurden (15,8%).
Fassen wir nochmal zusammen: (16/n)
42,5% asymptomatisch
29,6% Symptome vor Covid-Test
12,1% technische Probleme
15,8% inkludiert
Das heisst also zusammengefasst: (17/n)
Es geht um überwiegend weibliche Appnutzer, mit wahrscheinlich höherem Gesundheitsbewusstsein als der Bevölkerungsschnitt, von denen alle mit Vorerkrankungen, deren Symptome auch bei Corona auftreten können ausgeschlossen waren. Das ist ein relativ starker bias und einer, (18/n)
der in der Summe die Ergebnisse wohl zu milderen Verläufen und damit auch zu weniger LongCovid verschieben kann.
Als Ergebnisse wurden als Vorhersagefaktoren für LongCovid BMI gefunden (korreliert auch mit schwereren Verläufen, daher wenig überraschend), Alter (dito, aber (19/n)
hier kann die Erfassung per App evtl. das Bild verzerren, da wirklich alte Patienten stärker herausfallen), weibliches Geschlecht (Hier macht der nicht repräsentative Anteil von 72% Frauen Bauchweh!) und die Zahl der initial berichteten Symptome - wer also mehr Symptome in (20/n)
akuten phase berichtet, berichtet auch ehr länger von Symptomen (Auch einerseits nicht überraschend, hier kann aber eine starke Verzerrung auch durch das self-reporting hineinspielen!)
Alles in allem also sicher eine wichtige und interessante Studie, aber man muss sehr, (21/n)
sehr vorsichtig sein, sie nicht überzuinterpretieren.
Mäuschen out. (22/22)
* Es waren 88,2% der Teilnehmenden aus dem UK, 7,3% aus den USA und 4,5% aus Schweden, das verzerrt den Vergleich aber kaum
Ein Thread, der sich nochmal vor allem kritisch mit dem Einsatz der App auseinandersetzt, auch lesenswert!

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10 Mar
Sehr spanneder Thread zu #LongCovid, den in einigen Fällen beobachteten Verbesserungen der Symptome nach einer Impfung, wie das zusammenhängen könnte und was wir vielleicht aus der Beobachtung lernen könnten. (1/n)
Kurz gesagt beschreibt Prof. Iwasaki drei mögliche Erklärungen, die sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen und für die es alle unterstützende Daten gibt:
1) LongCovid könnte auf nach einer Infektion im Körper verbleibenden Viren basieren, die dank der besseren (2/n)
Immunreaktion auf die Impfung beseitigt werden
2) Verbleibende Virusfragmente, die das Immunsystem stimulieren, könnten eine Art "allergische" Erklärung für LongCovid bieten, indem das Immunsystem sozusagen unsinnig gegen einen besiegten Gegner weiterkämpft und so Symptome (3/n)
Read 8 tweets
10 Mar
Januar 2020, zentrale Medienhäuserkonferenz:

"Also Leute, da droht eine Pandemie, da müssen wir mal über Experten reden! Vor allem dürfen wir da keinen exponentiell überstrapazieren!"

"Also ich halte Streeck da für keine große Gefahr, eher Drosten oder Ciesek" (1/4)
"Ich denke auch, wir sollten mehr Streeck wagen!"

"Ich halte es halt auch für sehr unwahrscheinlich, dass er überhaupt in eine zweite Talkshow kommt."
"Und falls er Blödsinn erzählt?"
"Ich find es müssig, jetzt über falsche Prognosen zu reden!" (2/4)
"Und vor der Weitergabe solcher Irrtümern kann man ja gezielt Risikogruppen schützen."
"Wie denn? Das Internet abschalten?"
"Das hab ich nicht gesagt, da haben Sie mich missverstanden! Das ist jetzt eine inquisitorische Art der Fragestellung!" (3/4)
Read 4 tweets
8 Mar
Stefan aus Hannover feiert gerade einen Artikel "aus Nature", der belegen soll, dass Lockdowns nichts bringen. Sagt der Artikel das und ist damit die Diskussion über den Sinn von Lockdowns beendet?
Okay, schauen wir uns das halt an... (1/n)
Erstmal, hier der Artikel (Salvaris, Pumi, Dalzochio & Kunst, Scientific Reports 2021) und Moment... Hat Herr Homburg schon im dritten Wort seines Posts Mist gebaut?
Wirklich?
Ja... (2/n)

nature.com/articles/s4159…
Das ist nicht aus der Zeitschrift Nature (Impact factor 42,778, so prestigeträchtig wie es nur geht), sondern das viel weniger renommierte Open Access Journal der Nature Publishing Group (IF 4,011). Das macht das Paper nicht schlecht, aber weist schonmal drauf hin, dass es (3/n)
Read 21 tweets
5 Mar
Ich habe übrigens während meiner Promotion und danach fünf Jahre lang vor allem rekombinante Proteine in und aus verschiedenen Organismen hergestellt. Wir haben damit auch Kaninchen immunisieren lassen, um Antikörper zu gewinnen.
Ich weiss daher, dass das geht, aber auch, (1/n)
dass weder die Herstellung von rekombinantem Protein - vor allem in gleichbleibender Reinheit und Menge - noch das Hervorrufen einer vorhersagbaren Immunreaktion trivial ist.
Nur so ein paar Probleme, die dabei auftreten können:
1) Je nach Kultur, in der man das Protein (2/n)
herstellt, kann man alles mögliche mit-aufreinigen, wenn man nicht aufpasst. Insbesondere sind manche zellulären Proteine "sticky" wie wir im Labor sagen, bleiben also bei Aufreinigungsschritten gerne mit hängen. Dazu gehören um Beispiel Chaperone, Proteine, die an (3/n)
Read 20 tweets
26 Feb
Da ja ganz gerne mal @ob_palmer in talkshows über den Erfolg der Coronamaßnahmen in Tübingen spricht und von einigen als das glänzende Beispiel für gelungenen Risikogruppenschutz gefeiert wird - womit dann oft auch die Forderung nach Lockerungen verbunden ist, schauen (1/n)
wir halt mal auf die Zahlen, okay?
Die Stadt Tübingen hat Stand heute 2.257 bestätigte Coronafälle (tinyurl.com/53h8nwft) bei 90.935 Einwohnern (Haupt- und Nebenwohnsitz: tuebingen.de/1370.html) Damit kommen wir für die Stadt Tübingen auf 2482,0 Fälle je 100.000 EW (2/n)
Für die Todesfälle habe ich leider nur Daten zum landkreis Tübingen gefunden, da gab es 159 Todesfälle, was 69,9 Todesfällen je 100.000 EW entspricht (alle weiteren Daten von hier: tinyurl.com/yj7buen4)
Ich kürze das ab jetzt ab als 2482,0/69,9
Vergleichen wir das mit (3/n)
Read 12 tweets
26 Feb
Nur mal so: Den folgenden Menschen wünsche ich #Covid-19 mit schwerem Verlauf als Strafe für ihre Verharmlosungen der Pandemie:

*

Das war's. Mehr gehört nicht auf die Liste, egal wie daneben sich jemand sich benommen hat!
Leute, das ist eine Textplattform, also ist "*" in dem Kontext ein leerer Aufzählungspunkt, kein Platzhalter für "alle", kein Gendersternchen, kein Symbol für Geburt, astronomische Objekte oder das ASCII-Bild eines Katzen-Afters, okay?
P.P.S. Wer sich fragt, ob der Grundaussage Gutmenschentum oder der Wunsch unverantwortlichen Menschen kein infektiöses Material zu überlassen zugrunde liegt:
Beides!
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