Goos bedenkenswert dazu, warum im #Sterbehilfe-Urteil "die Tragik jedes Suizids" aus dem Blick gerät.
"Der Suizid kann letzter Ausdruck von Würde sein. Das Ertragen von Schmerzen und Leid und des zunehmenden Angewiesenseins auf Andere in Krankheit und Sterben aber auch." 1/17
"Meines Erachtens hätte sich das Bundesverfassungsgericht wesentlich kürzer und auch weniger grundsätzlich fassen können." 2/
Es hatte bisher "aus guten Gründen vermieden, eine bestimmte Deutung von Menschenwürde exklusiv zu setzen, und sich darauf beschränkt, Situationen zu benennen, in denen die Würde des Menschen jedenfalls verletzt ist". 3/
So hätte es "auch hier vorgehen können und festhalten können, dass jedenfalls die Würde schwerkranker, leidender, sterbender Menschen" verletzt sein kann, wenn sie keine Suizidhilfe bekommen können. 4/
Das Gericht ist jedoch weit darüber hinausgegangen: "Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben besteht, so das Gericht, „in jeder Phase menschlicher Existenz“.
"Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben sei, „wenngleich letzter, Ausdruck von Würde“." 5/
"Solche Formulierungen sind problematisch, weil sie ein bestimmtes Verständnis von Menschenwürde und eine bestimmte Sicht auf den Suizid absolut setzen, mit der die Tragik jedes Suizids aus dem Blick gerät." 6/
"Menschenwürde ist mehr als die Gewährleistung eines Lebens in Autonomie. Sie gilt gerade denjenigen, die noch nicht oder nicht mehr selbstbestimmt handeln können." 7/
Gibt es über ein weitergehendes Recht auf Suizid nicht nur in bestimmten Situationen, sondern als umfassendes Verfügungsrecht über das eigene Leben, "einen hinreichend breiten gesellschaftlichen Konsens"? 8/
Das BVerfG "deutet an", dass die berufsrechtlichen Verbote für Ärzte "verfassungswidrig sein könnten – der Deutsche Ärztetag wird sich Anfang Mai mit ihnen befassen". Wenn sie fallen, könnte "ein Verbot von Sterbehilfevereinen... eher zu rechtfertigen sein". 9/
"Ich halte es für eher unwahrscheinlich", dass der Bundestag "noch in dieser Legislaturperiode zu einer Neuregelung kommen" werde (letzte Sitzungswoche Ende Juni; Gesundheitsministerium habe "bisher nur einen „Zwischenstand“ vorgelegt..., den es nicht veröffentlichen will"). 10/
"Im Grundsatz haben diakonische Einrichtungen das Recht, der Suizidhilfe in ihren Häusern keinen Raum zu geben" - gegenläufige Gerichtsentscheidungen in Einzelfällen seien aber nicht auszuschließen: Recht auf selbstbestimmtes Sterben in der Abwägung mit der Religionsfreiheit. 11/
(Zum gesellschaftlichen Konsens: Aufgabe des Gerichts ist ja auch der - von der verfassungsgebenden Gewalt gewollte - Minderheitenschutz? Aber ich stimme zu, dass das Gericht hier - ohne Not - einer bestimmten Menschenwürdedeutung folgt. 12/)
(Es weist die Sicht von Böckenförde et al. zurück, Rn. 211, und treibt den Selbstbestimmungsgedanken auf die Spitze, gerade auch gegen einen moralischen Mehrheitskonsens, Rn. 234. 13/) bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Ent…
(Im Zweifel - und ich zweifle sehr - würde ich dem Gericht darin im Grundsatz zwar wohl folgen. Mir fehlt aber (sehr) eine Ausbuchstabierung der Schutzpflicht für die Autonomie und der empirischen Gefährdungen. 14/)
(Insofern stimme ich zu, dass es der Entscheidung an Sensibilität für die "Tragik jedes Suizids" fehlt. Die Dynamiken sozialen Drucks werden unzureichend (s. aber Rn. 250, 276) thematisiert. Es fehlt jedes Wort zur psychischen Lage suizidwilliger junger Menschen. 15/)
(Als ich eine - gelungene - Karlsruher Aufführung einer Online-Version von Goethes Werther sah, swr.de/swr2/buehne/we…, musste ich mich fragen, ob das nun im Ernst für das BVerfG ein Fall der Ausübung seines neuen Rechts sein soll? 16/)
(Das hielte ich für absurd. Und auf dieses Problem sollte das Gericht ebenso eine Antwort geben wie auf die Frage, ob nicht schon seine - dafür zu wenig sensible - Entscheidung selbst den sozialen Druck auf alte Menschen erhöht hat, "freiverantwortlich" zu sterben. 17/17)
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@Chr_Rath mit (unterschiedlich nachvollziehbarer) Kritik an den Notbremse-Anträgen .
Das BVerfG, das "bisher nur in einer Handvoll Fällen ein Gesetz vorläufig außer Kraft gesetzt" hat, werde "[v]ermutlich" auch diese Eilanträge ablehnen. 1/5
"Damit sind die Bürger:innen nicht schutzlos gestellt. Verwaltungsgerichte können auch gegen ein Gesetz vorläufigen Rechtsschutz gewähren. Das hat Karlsruhe schon 2004 im Zuge der BSE-Rinderwahnsinn-Krise festgestellt." 2/
"Die Verfassungsbeschwerden wirken aber auch in der Sache nicht zwingend". Karlsruhe sei "kein Ersatzgesetzgeber und keine gute Fee für politische Wünsche". 3/
In "etwa einem Dutzend Ländern" wurde "noch keine einzige Spritze gegen Covid-19" gesetzt. Die ärmsten Staaten "haben bis heute gerade mal 0,3% der verfügbaren Vakzine abbekommen". 2/
"Bis zur Mitte des Jahres können diese Länder lediglich für 3,3% ihrer Einwohner auf Impfstoffe hoffen - eine absurd niedrige Zahl. Und es könnte sein, dass selbst dieses Ziel der Covax-Initiative verfehlt wird." 3/
🚨Conseil d'Etat turns French national security against European liberty. 🚨
Vallée/Coauthor: In a "Securitarian Solange" it allows for the "sweeping collection" of personal data, defying EU law and the ECJ - and "abusing" Solange not to defend, but to restrict liberty. 1/11
"The ECJ has considered in its October 2020 ruling that this practice was not only violating the directive but also violating the EU’s Charter of Fundamental Rights." 2/
The Conseil refused the ultra vires route, "welcomed by Jacques Ziller and many legal scholars", but it also chose an even more "confrontational objection" to the ECJ's ruling "which could have very profound and long lasting consequences" and "has been largely unreported". 3/
Steinbeis (@Verfassungsblog): Am Tag des 50-Mrd.-Nachtragshaushalts "möchte ich Ihnen ein ganz bestimmtes Sondervotum zur Lektüre empfehlen". "Es stammt aus dem Jahr 1996 und der Feder des legendären Ernst-Wolfgang Böckenförde."
"In beispielloser Schärfe attestiert er seinen Senatskolleg_innen, mit diesem... Erlass eines neuen Verfassungsmaßstabs der Vermögensbesteuerung ihre Kompetenzen überschritten (man könnte auch sagen: ultra vires entschieden)... zu haben." 2/
Steinbeis: Der Gesetzgeber solle "ein wunderschönes neues Vermögensteuergesetz erlassen", Einwände der Verfassungswidrigkeit "gelassen ignorieren und es auf ein erneutes Verfahren in Karlsruhe ankommen lassen":
U.S. Supreme Court, Jones v. Mississippi (2021): Life without parole (= dying in prison) for juveniles
Dark prospects for the #RightToHope in this court with only three liberals left (for decades to come...?): Sotomayor, J. with whom Kagan and Breyer, JJ. join, dissenting. 1/14
(From a European perspective the whole concept of "irreparable corruption" seems incompatible with human dignity. And dignity (or at least the rule of law) always demands the possibility of parole. But some restrictions were at least closer to human rights than none.) 2/
Sotomayor calls out an attempt of stealth overruling:
"[T]he Court attempts to circumvent stare decisis principles by claiming that “[t]he Court’s decision today carefully follows both Miller and Montgomery.”... The Court is fooling no one." 3/
"Die Ausführungen zur Folgenabwägung indizieren", dass das Gericht "von der späteren Korrigierbarkeit eines etwaigen Kompetenzverstoßes ausgeht (Rn. 111)". Aber reichen die angeführten Maßnahmen dafür? "Zweifel erscheinen angebracht." 2/
Rechtswirkungen bis zur Hauptsacheentscheidung "blieben unberührt, soweit sie sich nicht im Verhandlungswege rückabwickeln lassen". "Dass das Gericht trotzdem auf eine summarische Prüfung verzichtet, passt nicht zur bisherigen Rechtsprechung und ist deshalb bemerkenswert." 3/