Lasst uns über Plagiate reden! Ja, sie sind ein Problem. Aber wenn jetzt behauptet wird, Annalena #Baerbock habe ihr Buch abgeschrieben, ist das lächerlich. Und es schadet der Wissenschaft, weil es echtes Fehlverhalten trivialisiert. (Thread)
Wer Abschlussarbeiten an der Universität einfach aus dem Internet zusammenkopiert, soll bestraft werden. Wer sich einen akademischen Titel verdienen will, muss sich an Regeln halten. Sonst entwertet man die Leistung all jener, die dafür tatsächlich hart gearbeitet haben.
In den letzten Jahren gerieten wiederholt PolitikerInnen unter Druck, die sich Abschlussarbeiten dreist zusammengeschummelt hatten. Es ist gut, wenn das nicht als Kavaliersdelikt gesehen wird. Man muss ja keinen Uni-Titel haben, um Politik zu machen. Aber man muss ehrlich sein.
Der Fall Baerbock hat damit aber nichts zu tun! Hier geht es um ein Buch, das nie den Anspruch erhoben hat, wissenschaftlich zu sein. Dort ist kein Quellenverzeichnis vorgeschrieben. Dort sind neuentwickelte, selbst erarbeitete Ideen zwar willkommen, aber nicht zwingend nötig.
Ein Buch für den Massenmarkt mit wissenschaftlichen Maßstäben zu messen, ist ein Kategorienfehler.

Trotzdem ist klar: Auch so ein Buch darf man sich nicht einfach aus fremden Quellen zusammenkopieren. Das ist dann keine Frage von Scientific Misconduct, sondern von Urheberrecht.
Hat Baerbock also geistiges Eigentum übernommen, ohne dafür zu bezahlen? Ein Blick auf die kritisierten Passagen sorgt für Erstaunen: Während Plagiatjäger Weber bei anderen Fällen oft seitenweise kopierte Passagen gefunden hat, handelt es sich hier nur um wenige Zeilen.
Ein Beispiel: Baerbock schrieb: "Der Wettbewerb scheint auch weltweit eröffnet. In Amsterdam ist ein 130 Meter hohes Holzhochhaus geplant, in Chicago ein 228 Meter hohes und in Tokio eines mit 350 Metern Höhe."
Im Spiegel fand sich zuvor eine ähnliche Passage:
"Und der Rekord dürfte früher oder später ohnehin gebrochen werden: In Amsterdam ist ein 130 Meter hohes Holzhaus geplant, in Chicago ein 228 Meter großes und in Tokio eines mit 350 Meter Höhe."

Wirklich - das ist der große Skandal?
Die anderen Fälle sind ähnlich gelagert.
Ja, natürlich ist es naheliegend, dass der eine Absatz die Quelle des anderen war. Aber ich sehe hier nicht, welche geistige Leistung, die zitier- oder schützenswert gewesen wäre, hier "geklaut" worden sein soll. Der Vorwurf erscheint mir politisch motiviert.
Was mich daran ärgert: Diese Scheinaffäre rund um ein Buch, das nie wissenschaftlich sein wollte, wird nun in einen Topf mit echtem wissenschaftlichen Fehlverhalten geworfen. Und dabei wird eine völlig falsche Vorstellung von wissenschaftlichem Arbeiten erzeugt.
Ja, in der Wissenschaft ist es wichtig, sauber zu zitieren, wenn man sich der Gedanken anderer Leute bedient. Aber entscheidend ist, ordentliche, eigenständige Arbeit zu leisten, neue Ideen zu haben. Schlechte Arbeit wird auch durch braves Zitieren nicht gut.
Erwecken wir bitte nicht den Eindruck, der Kern der Wissenschaftlichkeit sei, Anführungszeichen und Fußnoten richtig zu setzen! Zitierfehler mögen die "Smoking Gun" sein, an der man Substanzlosigkeit und schlechte Arbeit erkennt. Aber sie sind nicht das Hauptproblem.
Und wenn es um relativ banale Gedanken geht, die ohnehin schon hunderte Leute in ähnlicher Form hatten, ist es ziemlich lächerlich, darüber zu streiten, ob 3 Zeilen in einem Buch 3 anderen Zeilen irgendwo anders zu ähnlich sind. Wie viele Wörter muss man ändern, damit es ok ist?
Hätte man den Satz umgestellt und das Verb ausgetauscht, wäre alles gut? Wirklich? Und daraus konstruiert man jetzt eine Aufregung?
Nein! Schummeln ist ein ernstes Problem. Sprachliche Ähnlichkeit von 3-Zeilen-Passagen ist kein Problem.
Man kann natürlich trotzdem gegen Baerbock sein. Die Lebenslauf-Unsauberkeiten finde ich persönlich problematischer. Man kann auch inhaltlich sicher anderer Meinung sein. Aber diese angebliche "Plagiatsaffäre" soll bitte möglichst rasch wieder aus den Medien verschwinden. Danke.

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