So. Und jetzt wo ich wieder Eure Aufmerksamkeit habe, kann ich mich der Beantwortung der Frage kümmern, warum psychische Erkrankungen eher Prio haben sollten, als die ebenso grassierende Einsamkeit. Aus Sicht von #KeinerBleibtAllein:

Ein Thread.
Im Grunde ist das eine Henne-Ei Frage: Was war zuerst da? Die psychische Erkrankung oder die Einsamkeit? Und welches dieser Probleme ist dringender zu lösen? Bei der mittlerweile auf 5 Jahre zurückliegenden Arbeit in dem Projekt @IstNichtAllein und Gesprächen mit mehreren tausend
von Einsamkeit betroffenen, hat sich mir ein insgesamt stimmiges Gesamtbild ergeben. Und davon möchte ich Euch jetzt erzählen. Zu 90% sind die Teilnehmenden schlichtweg so sehr, von der Sozialisation des 21. Jahrhunderts überfordert, dass sie sich zur Kontaktherstellung völlig
einfache Wege wünschen. Und diese einfachen Wege haben wir mit #KeinerBleibtAllein erfolgreich über die annualen Weihnachtsfeiertage adressieren und etablieren können. Es entstanden dadurch nicht immer langjährige Kontakte, aber immerhin kurzweilige Ablenkungen und wieder etwas
mehr Klarheit für die Betroffenen, wie man Kontakte überhaupt herstellen kann. Für einen Menschen der keine Angst vor neuen Kontakten hat oder der wenigstens weiß wie man Kontakte herstellt, ist das kein Problem und vermutlich schwer fassbar warum es anderen so schwer fällt.
Aber es ist nun mal so. Wir leben in einer hochkomplexen Welt mit einem noch komplexeren Individualitätsanspruch des Einzelnen, der es zwar erlaubt uns immer mehr zu entfalten, aber gleichermaßen auch einschränkt gegenüber anderen Menschen. In dieser Komplexität kann man auch
leicht "verloren" gehen. Und das ist völlig normal. Es wird aber ab dem Zeitpunkt an dem man keine Kontakte mehr selbst finden kann, weil man sich bspw. nicht traut oder nicht mehr weiß wohin, kritisch. Für einen selbst, für das Umfeld, für zukünftige Kontakte.
Und da sind wir bei den psychischen Erkrankungen. Das von Einsamkeit betroffen sein, als Gefühl, findet erst dann statt, wenn sich schon leichte Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen herausbilden. Der Zeitpunkt an dem man selbst niemandem zur Last fallen möchte, aber
eigentlich gerne Kontakte hätte. Fatalerweise ist dies auch der Punkt, an dem man bereits meist keine Kontakte mehr hat und auch keine weiteren Ressourcen um mit diesem Defizit ordentlich umgehen zu können. Ordentlich im Sinne von: Man sucht sich Hilfe oder wenigstens Rat.
Die meisten Teilnehmenden die sich an uns wenden, haben diesen Zenit schon seit vielen Monaten, teilweise seit Jahren hinter sich und erkennen ihre Lage nicht. Verdrängen sie sogar oftmals. Von daher haben wir im Promillebereich bei den Vermittlungen auch Teilnahmen die akute
psychische oder medizinische Unterstützung brauchen. Die Härtefälle eben. Die kommen dann auch nicht in die Vermittlung, sondern werden entweder zur Hilfe angeleitet oder aktiv von uns unterstützt in dem wir eben Hilfe rufen.

Was ich damit sagen will:
Wir waren von Anfang an darauf vorbereitet, dass Menschen die einsam sind auch ihre individuellen Schwierigkeiten haben, sich mit anderen Menschen in Verbindung zu setzen. Es herrschen bspw. auch die Vorstellungen, dass man Menschen die einsam sind einfach so zusammensetzen kann.
Menschen sind aber nicht so einfach. Durch verschiedenste Situationen im Leben sind wir unterschiedlich geprägt, haben andere Auffassungen und manchmal überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Also außer man gehört der gleichen Spezies an.

Es geht also darum diesen Dschungel aus
Persönlichkeitsexklusivität und technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu bezwingen. Und oft ist das gar nicht so einfach. Man muss einfach nur mal in die Twittertrends schauen um zu erfassen wie zerrissen die gesellschaftliche Lage gerade ist.
Ja. Menschen waren schon immer so. Aber wir wurden nicht ständig mit diesen Infos befeuert, die dann im Anschluss wie Glut noch etliche Stunden oder gar Tage im Kopf nachglimmen und einen stetig beschäftigen. Und das ist eben nur Twitter. Ähnliche Beispiele gibt es auch bei
Herausforderungen des Alltags: Einkaufen, seine Freizeit verbringen, Hobbies suchen und durchführen. Mit sich selbst klar kommen.

Was wir uns wünschen, ist die Vereinfachung des überkomplexen Rahmens den wir uns als Gesellschaft gestaltet haben und gemeinsam glücklich sein.
Leider ist es aber nicht so einfach. Und obwohl sich 52% der Deutschen Einsamkeit als gravierendes Problem sehen, ist es ein Problem von solch monumentalen Ausmaßen, dass wir es wohl nie vollständig auflösen können. Einsamkeit lässt sich nicht heilen.
Einsamkeit ist entweder vorhanden oder eben nicht. Was sich jedoch entweder heilen bzw. abmildern lässt, sind die menschlichen Defizite, die durch ein zu langes verweilen in Einsamkeit entstanden sind.

Im Grunde bleiben von daher nur zwei mögliche Lösungsansätze um Einsamkeit
langfristig zu bekämpfen: Das appellieren an die Gesellschaft mehr aufeinander und auch auf den Einzelnen zu achten. Und zum anderen: An den Einzelnen zu appellieren auf sich und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu achten. Insbesondere wenn man einsam ist.
Selfcare ist ein gutes Stichwort: Auch hier gibt es oft die Vorstellung, man müsse sich verstellen um mit anderen Menschen in Kontakt treten zu können. Nein. Das ist nicht so. Man steht dabei ja sich selbst im Wege, indem man die eigene Person verleugnet.
Hören wir auf in Utopien zu denken und zu hoffen, dass Menschen eines Tages anders sein werden. Denn das waren sie immer: Anders. Individuell. Exklusiv.

Lasst uns also in diesem Jahr das Leben und die Exklusivität der Persönlichkeiten gemeinsam mit #KeinerBleibtAllein feiern.
Fernab der Utopien und Visionen anders sein zu müssen um einander gerecht zu werden. Die Gesellschaft ist nicht der Feind, der ausgrenzt, sie ist was uns stark macht und zusammenhält.

Einsamkeit ist ein Kollateraleffekt der Hochzeit des Individualismus. Aber auch unsere größte
Chance füreinander einzustehen. Wie so oft entwickeln sich zuerst Technologien, Kulturen und erst danach der gesellschaftliche Umgang damit.

Zu der Eingangsfrage: Ja psychische Erkrankungen sind das größere Problem, dass uns als Projekt vorliegt. Und es wiegt auch schwerer.
Danke für Eure Aufmerksamkeit. Ich würde mich freuen wenn Ihr den Thread retweeted.

Im Oktober geht es mit #KeinerBleibtAllein und neuem Konzept weiter. Das Leben und die Gesellschaft mit Euch zelebrieren.

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6 Apr
15 Monate Pandemie und man versteht immer noch nicht, dass die niedrige Sterblichkeit auf Masken, Abstand und Kontaktbeschränkungen zu führen ist...

Ganz ehrlich? Ohne AHA würde ein vielfaches an Leuten schon unter der Erde liegen.
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10 May 20
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9 Mar 20
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Statt jetzt großflächig
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15 Nov 19
Ich weiß nicht wer auf diesen Gedanken gekommen ist und warum auch immer, aber: Bei #KeinerBleibtAllein gibt es nur eine einzige Form von Diskriminierung und zwar wollen wir keine Nazis im Projekt haben. Wir können aktuell nichts dafür, dass in Publikationen und auch ich bisher
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25 Mar 19
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29 Jul 18
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Level 3: Du hast jetzt aus eigener Erfahrung verstanden, dass Tweets mit Geschlechtsteilen erfolgreich sein könnten. In Ermangelung sekundärer Weiblicher entschließt Du dich ein Foto von zwei Herdplatten und deinem

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