Meinel, BVerfG in der Ära der Großen Koalition, Staat 2021, 43 ff.

Starke Thesen, brilliant ausgeführt (die mich aber nicht überall überzeugen).

BVerfG betreibe "Umbildung" der parlamentarischen zu einer "anderen Demokratie" (48) mit zu viel Verwaltung und VerwR im VerfR.

1/
Der von Möllers 1999 beschworene zweite Methoden- und Richtungsstreit zum Verhältnis von Verwaltungs- und Verfassungsrecht sei "ausgeblieben" (43 f.):

"Vielleicht war nur die Generation, die ihn hätte führen können, nicht zu ihm aufgelegt." (44) 2/
Nach der Wende "zwei Denkrichtungen" (nur zwei?) (44 f.):

- Verfassungs- und Demokratietheorie á la Lepsius/Schönberger/Möllers

versus

- Neue Verwaltungsrechtswissenschaft - deren theoretisches Programm ein "deutscher Sonderweg" geblieben sei (45). 3/
In der "Frontstellung" kehre das "alte Problem des deutschen" ÖffRechts seit dem 19. Jh. wieder (45): VerwR als "dynamische[s] Element" werde ins Verfassungsrecht extrapoliert (45 f.) 4/
Das gelte für
- dt. Föderalismus
- "deutsche Rechtsstaatsidee"
- Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
- Verrechtlichung wohlfahrtsstaatl. VerwHandelns durch neue Grundrechtsfunktionen und
- und den Grundbegriff des dt. ÖffRechts "überhaupt": Kompetenzen (Neumeier-Habil. iE). 5/
Nachwendezeit habe die "alten Fragen" gestellt:

- "westliche[r] Konstitutionalismus", "demokratischer" VerfBegriff; politische Freiheit

oder

- int. "Sonderfall" "bürokratischen Herrschaftsmodell[s]"; administrativer VerfBegriff; "Technokratie"; "Legalitätsgewähr" (46)? 6/
BVerfG-Rspr. pflege verwaltungsrtl. Kategorien & Denkmuster" (46):
- Rationalität parl. Verfahrens
- Nachbess.- u. Beobachtungspfl.
- Leitbild Verantwortung; "überhaupt 'Leitbilder'"
- Steuerungs-Semantik
- Kompensationsprinzip
- Sachlichkeit ("Signalvokabel der Bürokratie") 7/
Positiv konnotierte "Übersetzung von Politik in Verwaltung" gehöre "zu einer generationentypischen Prägung" (Verweis auf Voßkuhle-Porträt) (48).

Die "Konstitutionalisierung der Verwaltung" sei "wieder in die

Bürokratisierung der Verfassung

umgeschlagen" (Neumeier) (48) 8/
Große Koalition: "Verdichtung und Materialisierung" der Verf:
- "defensive Strategie" gegen dauerpräsente qualifizierte Mehrheiten
- zugleich "Konstitutionalisierung des supermajoritären Regierungsmodus" durch Elimination der Unterscheidung von Politik & Verw (48) 9/
"Verfassung der Mitte" als Gegenmodell zur "demokratisch offenen Verfassung" zur "Verfassung der Mehrheit" (Volkmann) (48 f.)

Gewaltenteilungsmodell des Gerichts sei "keine Theorie der parl. Dem. der BRep", sondern "eine Theorie über oder sogar gegen sie" (49). 10/
Gewaltenteilung "zwischen Bürokratie (Verwaltung) und Politik (Parlament)" als Erbe monarchischen Konstitutionalismus" (49); Rspr. habe problematischste Züge des dt. Verfassungsmodells restauriert (50); Nachkriegszeit-Präferenz "für Verwaltung anstelle von Politik" (50) 9/
Große Koalitionen: ab 2005 Ära alternativloser Regierungsmehrheiten; split opposition, CDU mit alleinigem Kanzlerschaftsanspruch (50 f.); europ. Integration: BVerfG wurde nach Scheitern des Verfassungsvertrags "Akteur in einem offenen Verfassungskonflikt" (53) 10/
Lissabon-Urteil 2009 als Zäsur; Phasenverschiebung und Identitätstheorie als Reaktion auf Situation, in der verf.änd. Mehrheit "strukturell immer" bestehe (54); klass. Theorie der Verfg.gerichtsbarkeit als nichtmajoritäres Gegengewicht zur Regierungsmehrheit (55 f.) 11/
Dialektik von Mehrheit und Minderheit: Grundrechtsschutz "vor allem Minderheitenschutz" (57); aber "eigene Bewandtnis" im "institutionelle[n] Verfassungsrecht", in Dt. meist als StaatsorgR bez. (57) 12/
Besonderer "Akzent" des Mehrheitsprinzips im parl. RegSystem: Regierungsmehrheit primär; Gesetzgebungsmehrheit sekundär; gesetzgebende Gewalt sei nicht der BT, sondern der „Handlungsverbund" aus Regierung und parlament. Mehrh. (57) 13/
Für Verfassungskontrolle zwischen Regierungsmehrheit und Regierung im parl. Reg.system daher „keine trennscharfe Unterscheidung“ (57); „monistische“ Demokratie (Thoma); Regierung nicht Spitze der Bürokratie, sondern „Exponentin der gewählten Mehrheit“ (58) 14/
„Staatsgerichtsbarkeit“ sei v.a. Schutz parlamentarischer Minderheiten; jenseits dessen seien Interventionen „im Verhältnis von Regierung und Parlament“ „systematisch schlecht zu begründen“ (58) 15/
Eine "große, wenn auch uneigentliche Ausnahme“ sei der Vorbehalt des Gesetzes (59) als Ersatzmittel zum „fehlende[n] Ort einer Kompetenzgerichtsbarkeit“ (59). 16/
Von der noch 2011 diagnostizierten Konzeptionslosigkeit des StaatsorgR (Lepsius) könne zehn Jahre später keine Rede mehr sein (59 f.); Verhältnismäßigkeit als Maßstab für "beliebige Gesichtspunkte" (60); Trennung von Gesetzgebung und Exekutive "ungemein" ausgeweitet (60) 17/
Parlamentarische "Verantwortung" ohne verantwortliche Regierung (61 ff.); Gleichsetzung von Demokratie und Gesetzgebungskompetenz; Parlament und Legislative (63 f.); "Verantwortung" in Europarechtsprechung mache aus Parlament "unterschwellig eine Art Behörde (66 f.) 18/
"Idee des demokratischen Prinzips" sei, dass die Mehrheitsentscheidung "nicht durch die für sie sprechenden Gründe", sondern (nur) durch die Mehrheit selbst legitimiert sei (67).

(Das ist mir, unbeschadet der Begründungspflichten-Frage, zu dezisionistisch à la Schmitt.) 19/
Parlamentarische Informationsrechte (70-73); Spiegelbildlichkeit als Organisationsform (73-75); Wahlrecht (75-78).

Zwischenbefund (78). 20/
Die Rspr. zu Äußerungsbefugnissen als exhibit A für den "Bruch... mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie": "Entpolitisierung" (79-85).

(Mich überzeugt diese Grundlagenkritik an den Neutralitäts- und Sachlichkeitsgeboten jedoch nicht: verfassungsblog.de/warum-die-kanz….) 21/
Die Rspr. zum "Beamtenbesoldungs- und -statusrecht" habe die Abhängigkeit "des wichtigsten pouvoir neutre" von parlamentarischen Mehrheiten "in dramatischer Weise aufgehoben" (86, 85-88). 22/
Dritte Dimension der anti-majoritären Vorbehalte neben "Dissozierung" von Parl und parl Reg und "Entpolitisierung" der parl Reg: "Konstitutionalisierung der Verteilungsfragen" (88-93) 23/
Radikalität des PSPP-Urteils bestehe politisch in der gezielten Eskalation des europ Verfkonfliktes, juristisch im Bruch mit der "Gewissheit", dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Verteilungsentscheidungen "logisch leerläuft" (92 f.). 24/
Zusammenfassung (94). Sehnsucht nach Verrechtlichung der Politik (94); Politik als Verwaltungsaufgabe als erfolgreiche Strategie seit Maastricht, aber: verstellt "den Weg zu einem freieren, bürgerschaftlicheren Verständnis von Politik"; "Mastabskaskaden" (95) 25/
"Unerklärte[r] Rest" "könnte" in "unausgesprochene[m]" Dissens zwischen den Senaten über "eigene Zukunft" liegen (95 f.); Recht auf Vergessen als "apokryphe[r] Souveränitätsakt" ("Begriff bei" Schmitt); "Eindruck der Sprachlosigkeit zwischen den Senaten" (96) 26/
Ein großer Bogen, dichte Ausführung. Was sind meine Vorbehalte?
- Ein zentraler Baustein des Narrativs (amtliche Äußerungsrechte) überzeugt mich nicht.
- Schienbeintritte gegen Neue VerwR-Wiss. sollten eigtl. nicht Argumente ersetzen, scheinen mir aber hier so zu fungieren 27/
- Dass Maßstäbe aus dem VerwR kommen, disqualifiziert sie noch nicht.
- Grundthese, dass "Verdichtung" von Maßstäben abzul. ist, wird vorausgesetzt, aber nicht eigens begründet; ebenso offenbar die Schönberger/Lepsius/Möllers/Volkmann-Thesen vom entgrenzten Gericht 28/
- Wie dort generell kommt mir die Frage zu kurz, ob die gefundenen Maßstäbe nicht gleichwohl die bessere Verfassungsinterpretation sein könnten. 29/
- Und, wie schon angedeutet, habe ich Vorbehalte gegen den mir allzu majoritär-dezisionistisch klingenden Demokratiebegriff; s. auch hier: .

- Insgesamt schimmert mir zu viel Schmitt durch; aber ich mag mich da täuschen. 30/
- Fokussierung auf Voßkuhle erinnert an U.S.-Analysen - passt aber nur begrenzt auf das BVerfG, dessen Eigenarten (2 Senate, gemeinsam verfasste Entscheidungen, 12 J. Amtszeit) höheren Homogenitätsdruck und größere Kollegialverantwortung bewirken dürften. /31

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