Wie soll man auf Fake News und Pseudowissenschaft reagieren? Muss man immer verständnisvoll und freundlich sein, oder darf man manchmal auch ein bisschen Wut rauslassen? Schwer zu sagen, aber ich glaube, wir brauchen beides. (Thread)
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Pseudowissenschaft, Esoterik und Verschwörungstheorien. Ich habe schon Post von Chemtrail-Gläubigen bekommen, saß in Fernsehdiskussionen mit Wunderheilern, meine Impfgegner-Hassmail-Sammlung wächst immer weiter.
Ich finde es spannend, mit solchen Leuten ins Gespräch zu kommen. Und oft ergab sich da ein freundlicher, interessanter Austausch. Es hat einen gewissen Reiz, einem Perpetuum-Mobile-Bastler über Wochen hinweg zu erklären, dass die Naturgesetze doch auch für ihn gelten.
Natürlich funktioniert das nur, wenn man den Gesprächspartnern ernst nimmt. Oft sind ihre Gedanken ja nicht dumm, sondern bloß falsch. Und falsche Gedanken hat ausnahmslos jeder von uns im Kopf.
"Interessant! Ja, das klingt logisch, ich verstehe, wie du auf das kommst, aber die Wirklichkeit ist es anders. Überlegen wir uns da gemeinsam durch!" - Auf diese Weise kommt man natürlich leichter an jemanden heran als mit "Du Idiot!"
Und so habe ich schon sehr freundlich mit Wunderheilern diskutiert, mit Quanten-Energie-Heilern und Astrologen. Ich glaube sagen zu können, dass meine Toleranz solchen Themen gegenüber ziemlich hoch ist.
Trotzdem gibt es einen Punkt, an dem ich höfliche Freundlichkeit unangebracht finde. Wenn sich jemand selbst täuscht, ist das immer verzeihlich. Wenn jemand in unverfrorener Ignoranz eindeutig bekannter Fakten andere täuscht, dann ist irgendwann auch mal Schluss mit lustig.
In der Pandemie und in der Impfdebatte passiert mir das immer wieder: Wenn Leute ungeprüfte Wurmmittel statt einer wissenschaftlich geprüften Impfung empfehlen, dann werde ich sauer. Wenn jemand behauptet, die Corona-Toten seien bloß Erfindung, will ich nicht freundlich sein.
Und das kann man mir natürlich vorwerfen: "Mit Emotionen überzeugst du doch niemanden!" heißt es dann. "Wenn du jemandem sagst, seine Meinung sei gefährlich, erzeugst du eine Abwehrreaktion und er wechselt niemals mehr ins Lager der Wissenschaft!" Das ist nicht falsch.
Aber ich glaube, es ist auch wichtig, eine rote Linie zu ziehen: Zwischen legitimem Irrtum und aggressiver Faktenverdreherei.
Man darf nicht direkt an der Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft die Geduld verlieren, das ist zu früh. Aber irgendwo weit draußen, an der Grenze zwischen "wissenschaftlich nicht haltbar" und "auf gefährliche Weise falsch" darf die Freundlichkeit auch mal enden.
Ich würde drei Diskussionsgebiete unterscheiden:
1) Diskussionen innerhalb der Wissenschaft, über Fragen die ev. tatsächlich noch nicht ganz geklärt sind,
2) Pseudowissenschaft: Klar falsch, aber hier ist freundliche Aufklärungsarbeit nötig
3) Aggressive Fake-News-Propaganda
1) Soll die Impfung für Kinder freigegeben werden? Legitime wissenschaftliche Diskussion.
2) Macht die Impfung unfruchtbar? Nein. Längst widerlegt, muss man freundlich erklären.
3) Will uns die Regierung mit der Impfung alle töten? Da habe ich keine Lust mehr auf Freundlichkeit.
Ich glaube, es ist wichtig, zwischen 2 und 3 zu unterscheiden: Nicht alles, was falsch ist, ist inakzeptabel. Aber es gibt Grenzen.
Die hängen auch ein bisschen vom Kontext ab: Mit einem pensionierten Virologen, der Unsinn erzählt, bin ich strenger als mit Tante Adelheid. Aussagen von Promis, die Millionen Leute beeinflussen, sind strenger zu bewerten als Aussagen am Stammtisch.
Ich werde mich weiter bemühen, möglichst oft freundlich zu bleiben, auch wenn mir das schwerfällt. Aber ich glaube, dass es in Ordnung ist, in Konfrontation mit klar antiwissenschaftlichen Aussagen auch mal wütend zu werden. Wir sind alle keine Roboter. Und das ist auch gut so.

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